Nachhall des Schöpfungsaktes

Gershom Scholem und der Spagat zwischen Kabbala, Literatur der Romantik und Allgemeiner Religionsgeschichte

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner Abhandlung "Die letzten Kabbalisten in Deutschland" hatte Gershom Scholem den Niedergang historischer kabbalistischer Literatur in den deutschsprachigen Ländern auf das Jahr 1800 datiert: "Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts bricht die kabbalistische Tradition in Deutschland ziemlich abrupt ab." Im 19. Jahrhundert finde man sie, gleichsam unterirdisch, nur bei vereinzelten Adepten. Damit hatte Scholem ein Machtwort gesprochen, das für viele Forschungsarbeiten bestimmend wurde. Gleichwohl gibt es einige wenige neuere Arbeiten, die diesem Diktum widersprechen. Deren Grundtenor ist, dass das Abrechen der kabbalistischen Tradition keineswegs ihr Verschwinden bedeute; vielmehr sei ein Prozess der Transformation von Kabbala zu beobachten. Dem von Scholem konstatierten Verebben kabbalistischer Literatur in hebräischer Sprache stehe ein ungeheures Anwachsen der Bezugnahme, Wertschätzung und Erforschung von Kabbala gegenüber. Dem Bruch mit der kabbalistischen Tradition um 1800 entspreche daher ihre fast gleichzeitige Vermittlung und Transformation im religiösen, sprachlichen und kulturellen Kontext der deutschen Romantik.

Besonders Andreas Kilcher hat zuletzt hervorgehoben, dass Kabbala grundsätzlich mehr sei als eine Metapher oder Trope, auf die in den Texten der Romantik rekurriert werde. Den um 1800 festzustellenden Berührungspunkt von Kabbala und Ästhetik bildet nach Kilcher eine Theorie der Sprache, die durch die hebräische Sprachmetaphysik der Kabbala einerseits und die ästhetischen und rhetorischen Parameter der poetischen Sprache andererseits bestimmt sei. Sichtbar wird ein jahrhundertelanger Prozess von Adaptionen und Transformationen der Kabbala als Sprachtheorie, einer Rezeption der Kabbala als Hermeneutik, Sprachmystik oder Sprachmagie in den verschiedenen historischen, religiösen und ästhetischen Konfigurationen, die von der Frühen Neuzeit bis in die Romantik reichen. Diese "ästhetische Kabbala" (Kilcher) ist das Produkt einer hermeneutischen Arbeit am Sprachmythos der Kabbala, im Zuge derer die sprachmetaphysischen Parameter der Kabbala in ästhetische Kategorien und Verfahrensweisen übersetzt werden. Dabei wurde insbesondere die Sprachtheorie der lateinischen Kabbala der Frühen Neuzeit in der Romantik um- und weitergeschrieben. Ihre theologischen, philosophischen und naturmystischen Sprachtheoreme wurden ästhetisch umcodiert. Die Sprache der Kabbala galt um 1800 nicht mehr als metaphysisches Modell, sondern als Paradigma und als Metapher einer poetischen Sprache. Friedrich Schlegels parabolische Gleichung aus seiner 1799 entstandenen Schrift "Zur Rhetorik und Poesie" - "Die Ästhetik = Kabbala - eine andre giebts nicht." - erweist sich als ein Modell, das noch die historisch-philologische Wende der Kabbala-Forschung im späteren 19. und im 20. Jahrhundert überdauern konnte, wie sich einerseits an der initialen Wahrnehmung der Kabbala beim jungen Gershom Scholem und deren ästhetische Umcodierung im Diskurs des Poststrukturalismus zeigen ließe.

Das Phänomen der Kabbala wurde bereits in der hebräischen Literatur seit dem 12. Jahrhundert als ein Projekt der Rezeption konzipiert, als ein Vorhaben der Aneignung, der Interpretation, der Transformation und der Kommentierung. Johannes Reuchlin hat dies in seiner 1506 publizierten Schrift "De rudimentis hebraicis", für das hebräische Verb lbq (kibel) festgehalten: "Suscepit, recepit, accepit, acceptauit, elegit." Dem enstsprechend definiert er dort auch die "cabala" selber als "receptio", und die "ars cabalistica" als "scientia receptionis". Kabbala wird hier nicht nur als Gegenstand der Beobachtung ausgewiesen, sondern auch als ein Modell der Rezeption, genauer als eine Theorie und Praxis der Interpretation und Kommentierung, die mögliche Parameter der Rezeption selbst schon reflektiert. Die kabbalistische Auffassung der Tora als eines vollkommenen Buches, das sowohl mit der Gottheit identisch ist als auch von ihr ausgeht, setzt einen Ausgangspunkt, von dem aus die pneumatische Exegese die unendliche Bedeutungsvielfalt der Tora entdecken kann. Die Tora wird als "opera aperta" (Umberto Eco) schlechthin begriffen, in dem der göttliche Charakter des Menschen ebenso seinen vollkommenen Ausdruck findet wie die Entdeckung der sich in einem ungeformten Text widerspiegelnden Unendlichkeit Gottes. Gemäß dieser Grundannahme ist Rezeption nicht Decodierung und Freisetzung eines transzendentalen Signifikats, sondern eine urprüngliche, metonymische, verzeitlichende und verräumlichende Strukturalität von Zeichen. Jacques Derrida hat diese Überlieferungsstruktur im Paradoxon der "différance" als ursprungs- und zentrumslose Verschiebung und Verzögerung in Raum und Zeit definiert. Die Signifikation, der Prozess der Bedeutungsgebung also, ist demnach eine permanente "Depräsentation" und "Deterritorialisierung" auf der Ebene der Sprache. Die Zeichen verweisen nicht auf eine außersprachliche Präsenz, sondern bilden einen immanenten Prozess der Supplementierung und Substitution. Die Sprache ist das raum-zeitlich gedachte Feld der Interpretation, Übersetzung und Säkularisation. Die Kehrseite des Verlusts der Bedeutung oder der Tradition ist das Aufkommen der Sprache. Sprache gewinnt dabei, was an Bedeutung und Tradition ihr anverwandelt wird, wie Derrida in "Glas" hervorhebt: "Les mots sont déchainés. Ils enragent le dictionnaire. La langue n'a pas lieu sûr. Le discours est donner de sens, mais comme un indicateur vient trahir un réseau. Le tradition livre le sens mais pour perdre l'institution dans la répétition." Nach Derridas Modell bilden also Rezeption, Interpretation, Tradition, Übersetzung oder Säkularisation einen sprachimmanenten Prozess.

Dieses neuartige Interesse an Sprache ist aber nicht nur dem poststrukturalen Denken inhärent, sondern auch der christlichen und jüdischen Kabbala-Rezeption der Romantik. Hamanns Satz, dass Sprache "die Mutter der Vernunft und Offenbarung, ihr A und O" sei, markiert den Konvergenzpunkt der Romantiker gegen die reine Vernunft der Aufklärung. Das neue Verhältnis zum Hebräischen als der von Herder gepriesenen Sprache der "ebräischen Poesie" und der jüdischen Nation, ist der Fokus der romantischen Kabbala-Rezeption. Diese Konzentration auf Sprache erschließt vor allem die Breite der Kabbala-Rezeption in den verschiedenen Wissenschaften, aber auch in der schönen Literatur, in Zeitschriften, Übersetzungen und religiösen Texten um 1800. Diese Verdichtung des romantischen Diskurses um Buchstaben und Schrift der hebräischen Sprache im Kontext und in Absetzung von okzidentalen Sprachtheorien steht im Mittelpunkt eines von Eveline Goodman-Thau, Gert Mattenklott und Christoph Schulte herausgegebenen Sammelbandes, der sich der Interdependenzen von "Kabbala und der Literatur der Romantik" zuwendet. Die einzelnen Beiträger zeigen deutlich, dass die jüdische Mystik um 1800 auch von christlichen Literaten wie Novalis, Friedrich Schlegel, Brentano, Arnim und E.T.A. Hoffmann entdeckt wurde (die Beiträge von Andreas Kilcher, Wolfgang Neuser, Gunnar Och, Detlef Kremer, Hans-Dieter Zimmermann). Während die Kabbala im theologischen und philosophischen Diskurs der Romantik als religiöse Ur-Lehre der Menschheit (die Beiträge von Rivka Horwitz, Klaus Reichert, Christoph Schulte, Roland Goetschel) und als Brücke zwischen rabbinischer Tradition und Christentum galt, begegnet sie in der Literatur als "esoterische jüdische Zauber- und Geheimlehre" sowie als "Trope einer die Rationalität und die Autorintention übersteigenden magischen Eigenmächtigkeit von Sprache und Schrift". Ein weiterer Brennpunkt dieser Faszination liegt in der esoterischen Zauberei und der magischen Naturbeherrschung, wie sie in der Golem-Legende thematisiert wird (der Beitrag von Eveline Goodman-Thau). Interessanter Weise wird die Ästhetisierung der Kabbala vor allem durch die "Unkenntnis der jüdischen mystischen Traditionen in den christlichen Kreisen" und durch ihre Herauslösung aus genuin religiösen Kontexten ermöglicht. Gleichzeitig wird auch ein latenter Antijudaismus bei vielen romantischen Autoren sichtbar, ungeachtet ihrer Faszination durch die ästhetische Instrumentalisierung der Kabbala. Besonders flagrant ist der judenfeindliche Ton in den Pamphleten der Christlich-deutschen Tischgesellschaft ebenso wie in den Werken der Volksliteratur (der Beitrag von Christoph Daxelmüller). Umgekehrt wird in den jüdischen Kreisen Kabbala oft mit der Begründung abgelehnt, sie stehe konträr zu bürgerlicher Rationalität, Gleichberechtigung und Akkulturationsbestrebungen der Juden.

Die Frage, die mal mehr, mal weniger explizit verhandelt wird, ist die nach dem figurativen und ästhetischen Modus der Darstellung, nach der ästhetischen Codierung der Kabbala. Es geht den einzelnen Beiträgern vor allem darum, die Rhetorizität der Rede von der Kabbala wahr- und ernst zu nehmen, wie sie etwa Harold Bloom mit seiner hermeneutikkritischen Kategorie des "produktiven Missverständnisses" entwickelt hat. Die Aufmerksamkeit gilt daher nicht der Rezeption von kabbalistischen Ideen, Konzepten und Begriffen, sondern ihrer Umdeutung zu Signifikanten und Tropen. Diese Umdeutung geht einher mit einer grundsätzlichen Umwertung der Qualität des Rhetorischen, die in der platonischen Kritik noch als die potentielle Gefahr der Sprache und des Scheins für die Sphäre der Wirklichkeit und der Wahrheit disqualifiziert wurde. Dem gegenüber versteht sie Bloom als das "normale" Funktionieren des semiotischen Prozesses der Signifikation. Die Wende vom metaphysischen zu einem sprachimmanenten Modell der Rhetorik verweist jedoch noch vor den poststrukturalen Modellen Blooms oder de Mans auf die Romantik. Auch in der Romantik wurde, wenn auch weniger systematisch, der poetologische Prozess der progressiven Transformation mit dem Namen Kabbala verbunden, wie Andreas Kilcher in seiner Lektüre der "Kabbala als Trope im ästhetischen Diskurs der Frühromantik" zeigt. Zu denken ist an Friedrich Schlegels Bezeichnung dieses rhetorischen Substitutionsprozesses in seinem Aufsatz "Über die Unverständlichkeit" (1800) als "die große Raserei einer solchen Kabbala", in der "die Worte sich selbst oft besser verstehen, als diejenigen, von denen sie gebraucht werden". Die Kabbala nach Schlegels Verständnis verweist auf eine Sprache, in der "die Zeichenproduktion von einem verstehbaren Reellen abgekoppelt ist". Ähnliches findet sich auch in Salomon Maimons "Lebensgeschichte" (1792/93), wo die Kabbala als zunehmende Desemantisierung und Umdeutung ihrer Bilder und ihrer Sprache verstanden wird: "Ursprünglich war die Kabbala vermutlich nichts anders als Psychologie, Physik, Moral, Politik u. dgl. Durch Symbole und Hieroglyphen in Fabeln und Allegorien vorgestellt." Der allegorische Sinn der kabbalistischen Hieroglyphen sei jedoch verlorengegangen und "die Zeichen wurden statt der bezeichneten Sache selbst genommen."

Was Schlegel im Rahmen seiner Theorie der Unverständlichkeit also primär interessiert, ist die Gleichsetzung von Kabbala mit den aus ihr abgeleiteten ästhetischen Parametern der Rezeption und Interpretation, wie sie Novalis im Typus der verändernden Übersetzung und Schlegel in der progressiven Universalpoesie entwickelte. Die Funktion der Kabbala als metafigurative Theorie des ästhetischen und rhetorischen Prozesses der Signifikation wird auch daran erkennbar, was Novalis als "grammatische Mystik" oder einfach als "Grammatik" bezeichnet. Diese implizite Identifizierung einer kombinatorisch-semiotischen Grammatik mit der Kabbala hat Friedrich Schlegel schließlich in den "Philosophischen Lehrjahren" (1799) auf die kürzeste Formel gebracht: "Kabbalah = unendliche Grammatik". Kabbala wurde in diesem Zusammenhang zu einer Metonymie "eines semiotisch strukturierten Wissens, das der okkulte Wissensbegriff als 'Signaturenlehre' ins Zentrum seiner Epistemologie stellte", und das nun bei Novalis und Schlegel zum Dreh- und Angelpunkt einer poetischen und ästhetischen Kodierung der Wissenschaften wird. Die "revolutionäre Praxis" (Schlegel) der Kabbala wäre demnach mit Kilcher als eine "permanente rhetorische Umwälzung, Transformation und Erneuerung der Sprache in der experimentellen Kombination und Permutation ihrer Elemente" zu verstehen.

Gleichzeitig beziehen nicht nur Novalis und Schlegel, sondern auch viele andere Literaten das romantische Projekt, die verlorene ursprachliche Identität von Zeichen und Bezeichnetem literarisch zu restituieren, auf die magische Sprachvorstellung der Kabbala. Von daher liegt es nahe, wie Detlef Kremer in seiner Untersuchung "Kabbalistische[r] Signaturen" bei Arnim und E.T.A. Hoffmann hervorhebt, dass sich romantische Literatur auf die kabbalistische Sprachtheorie konzentriert. Sie verstehe "poietische Schöpfung als Selbst-Transformation des Künstlers in eine schriftliche Existenz", wobei vor allem der Funktion des Namens "wie in der vorgestellten Ursprache eine Bedeutungs- und im ästhetischen Sinne Weltkonstitution" zukomme. Analog zur kabbalistischen Sicht der Tora als eines beweglichen Organismus konstituiere sich der romantische Text als "inkommensurable Sinn-Komplexion". Von besonderem Interesse ist Kremers These, dass sich die drei von Scholem aufgeführten Grundprinzipien der kabbalistischen Interpretation der Tora - "1. das Prinzip des Namens Gottes; 2. Das Prinzip der Tora als Organismus, 3. Das Prinzip der unendlichen Sinnfülle des göttlichen Wortes" - im romantischen Text "in gleichsam säkularer, ihres metaphysischen Anspruchs weitestgehend entkleideter Gestalt" wiederfänden.

Die ästhetische Codierung der Kabbala um 1800 erweist sich somit als ein Prozess der "Versprachlichung" und der Ästhetisierung einer okkultisch, magisch und mystisch codierten Sprache. Gershom Scholem hat diesen Säkularisationsvorgang in der Kategorie des "produktiven Missverständnisses" als katastrophische und häretische Ironie, und im ersten seiner "Zehn unhistorischen Sätze über Kabbala", als Ironie eines "Verfalls" beschrieben: "Echte Tradition bleibt verborgen; erst die verfallende Tradition verfällt auf ihren Gegenstand und wird im Verfall erst in ihrer Größe sichtbar. Um so schärfer treten Scholems Annäherung an das ästhetische Sprachparadigma der Kabbala in Konkurrenz und in Konflikt mit dem Postulat einer rein historischen und philologischen Beschreibung der Kabbala. Auch hier ist gezeigt worden, dass "am Rand" von Scholems historischer Rekonstruktion der Kabbala auch das Vorhaben erkennbar wird, im expliziten Anschluss an die Romantik die Kabbala innerhalb eines ästhetischen Diskurses zu lesen. Dabei hat Scholem - das gilt es zu unterstreichen - mit seinem Anschluss an die ästhetische Kabbala der Romantik die Möglichkeit für eine ganze Reihe von poetischen und literaturtheoretischen Adaptionen der Kabbala im 20. Jahrhundert (bei Borges, Celan, Nelly Sachs, Jabès, Derrida, Bloom) bereitgestellt.

Das gilt natürlich auch für den wesentlichen Faktor in der Konstitution von Scholems initialer Wahrnehmung der Kabbala: für den Austausch mit Walter Benjamin seit Mitte 1915. Konstitutiv für ihre gemeinsamen Diskussionen waren primär sprachtheoretische Überlegungen. Als Modell der Beschreibung des "Verhältnisses des Juden zur Sprache" diente Scholem und Benjamin die romantische Sprachmetaphysik, wonach die Sprache der Aspekt ist, unter dem sich philosophisch und theologisch argumentieren lasse. Beide bestätigen dabei, dass eine Rettung der Sprachtheorie der Kabbala, wenn sie möglich sein sollte, eine ästhetische sein wird. Die emphatische Deutung der Sprache sieht Scholem in der Sprache der "Dichter" restituiert: "Diese Tradition [...] verwandelt sich und geht eventuell auch in ein leises und verhauchendes Flüstern über, und es mag Zeiten geben, wie die unsere, wo sie nicht mehr überliefert werden kann und wo diese Tradition verstummt. Das ist dann die große Krise der Sprache, in der wir stehen, die wir auch den letzten Zipfel jenes Geheimnisses, das einmal in ihr wohnte, nicht mehr zu fassen bekommen. [...] Was die Würde der Sprache sein wird, aus der sich Gott zurückgezogen haben wird, ist die Frage, die sich die vorlegen müssen, die noch in der Immanenz der Welt den Nachhall des verschwundenen Schöpfungswortes zu vernehmen glauben. Das ist eine Frage, auf die in unserer Zeit wohl nur die Dichter eine Antwort haben, die die Verzweiflung der meisten Mystiker an der Sprache nicht teilen und die eines mit den Meistern der Kabbala verbindet, auch wo sie deren theologische Formulierung als noch zu vordergründig verwerfen: der Glaube an die Sprache als ein, wie immer dialektisch aufgerissenes, Absolutum, der Glaube an das hörbar gewordene Geheimnis in der Sprache." Die Sprache der Kabbala rekurriert nicht mehr auf die metaphysische Struktur der göttlichen Welt und ist insofern nicht mehr Offenbarung eines "Geheimnisses", sondern ist Selbstoffenbarung der semiotischen Gestalt der alten Sprache. Die ästhetische Um-schreibung macht die Kabbala zu einer Tradition ohne Tradition, zu einer bloßen Möglichkeit der Tradierbarkeit, der Sprache.

Für das Verständnis der Kabbala sind die Schriften Scholems von enormer Bedeutung. Sie sind weit über den Kreis der Judaistik hinaus rezipiert worden und haben in der Religions-, Geschichts- und Sprachphilosophie wie auch in der Literaturwissenschaft eine beachtliche Resonanz erfahren. Jenseits ihrer grundlegenden philologischen und historischen Bedeutung für die Erforschung von jüdischer Mystik und Messianismus werden seine Arbeiten verstärkt auch als Beiträge zu einer Debatte philosophisch-religiöser Fragestellungen verstanden. Dabei gilt gerade die Situierung Scholems und seiner Schreibarbeit an der Schwelle von Judaistik und Poetik, von religiöser Sprache und Literatur, von Historiographie und Rhetorik überhaupt erst zu entdecken. Wie sehr bei alldem Scholems Verhältnis zur allgemeinen Religionsgeschichte vernachlässigt wurde, zeigt Elisabeth Hamachers kenntnisreiche Studie "Gershom Scholem und die Allgemeine Religionsgeschichte". Mit ihrer These, Scholem sei ein "Kind" der sogenannten "religionsgeschichtlichen Schule" in Marburg, vor allem Rudolf Ottos ("Das Heilige", 1917) und Friedrich Heilers ("Das Gebet", 1918), öffnet die Autorin nicht nur einen gänzlich neuen Blick auf die Arbeiten des Kabbala-Forschers Scholem, sondern auch auf den vehementen Kritiker einer deutschen "Wissenschaft des Judentums" und den radikalen Verneiner einer "deutsch-jüdischen Symbiose". Hamacher gliedert ihre Studie in zwei Teile, deren erster in drei Schritte unterteilt ist: Nach einem Literaturbericht im ersten Kapitel, der einen ersten Einblick in die im Entstehen begriffene Scholem-Forschung gewährt und in dem die Kontroversen über Scholem ebenso angesprochen werden wie die Kontroversen mit Scholem (etwa die Auseinandersetzung zwischen Buber und Scholem über die Interpretation der jüdischen Mystik) findet sich im zweiten Kapitel eine Untersuchung zu Scholems Selbstverständnis als Historiker, der im dritten Kapitel ein fundierter Überblick über die Allgemeine Religionsgeschichte in der Weimarer Republik folgt.

Im zweiten Teil ihrer Arbeit legt Elisabeth Hamacher über Scholems Werk (einschließlich der Briefe und der frühen Tagebücher) eine Folie mit Mustern und Fragen, die ihren Ausgang von den sogenannten "Stadien der Religionsgeschichte" nehmen, d. h. von Scholems grundlegender Theorie, nach der die Mystik, indem sie den Mythos fortleben und wiederauferstehen lasse, die jüdische Religion lebendig halte. Die einzelnen Kapitel zu "Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik", der "mystischen Erfahrung" und dem "religiösen Bewußtsein" gewinnen ihren Reiz in der Parallel-Lektüre mit den Paradigmen der religionsgeschichtlichen Schule (mythisches Denken, Mystik und lebendige Religion). Der 'Dreh- und Angelpunkt' der Studie liegt genau hier: in der kritischen Auseinandersetzung mit der vorherrschenden Meinung, der Kabbalaforscher spreche den jüdischen Mystikern das "unmittelbare Erlebnis" der Unio mystica ab. Der Kern von Hamachers These lautet: "Die genuin religiösen Antriebskräfte in Scholems Geschichte der jüdischen Mystik sind nicht irgendwelche Ideen, sondern immer solche, die mit Gefühlen verbunden sind. Der Philologe der Kabbala rekurriert nicht nur häufig auf religiöse oder mystische Erfahrung, sondern mindestens ebenso häufig auf allgemeinere religiöse Gefühle der Stimmungen."

Zweifelsohne stellt diese Annahme und die Vorstellung von Mystik als "einer unmittelbare[n] Gotteserkenntnis" durch das Gefühl vieles von dem, was bisher zu Scholem angemerkt wurde auf den Kopf, und widerspricht damit sogar Scholems kühlem Diktum "I certainly am not a mystic". Die Situierung Scholems in der Nähe dessen, was Rudolf Otto so brilliant als Erlebnis des Numinosen beschrieben hat, ist gleichsam eine 'Rettung' und 'Befreiung' Scholems aus den Deutungsdickichten der Forschung, die in dem jüdischen Gelehrten ausschließlich einen Kabbalisten oder Zionisten, einen Theologen oder Philosophen oder immer wieder auch nur den Freund und Nachlassverwalter Benjamins sehen wollten. Gleichzeitig ist Elisabeth Hamacher bestrebt, das "verbreitete Bild von Scholems Auffassung von symbolischer und mittelbarer Beziehung zum Absoluten, von seiner Aufwertung der Sprache und Abwertung der unmittelbaren religiösen Erfahrung", die den Kabbalaforscher in einen radikalen Gegensatz zu Bubers früher Erlebnismystik, zum späteren religiösen Exitentialismus und zur Lebensphilosophie stelle, zu korrigieren. Dabei entgeht ihr der entscheidende Umstand, dass die von ihr anfangs heftig bekämpfte Literaturwissenschaft, der sie diese Dichotomisierung unterstellt, diese Einseitigkeiten längst korrigiert hat (wenn man etwa an die Arbeiten von Stéphane Mosès, Sigrid Weigel, Susan Handelman, Robert Alter und Andreas Kilcher) denkt. Hier argumentiert die Autorin fraglos zu eng und zu polemisch. Ähnlich überzeugend wie bereits zuvor David Biale geht Elisabeth Hamacher jedoch von der Einheitlichkeit des Scholemschen Werkes aus, das zwar "Entwicklungen und Revisionen" erfahren habe, jedoch nicht "von grundsätzlichen Brüchen" gekennzeichnet sei.

Der größte Verdienst dieser akribischen Studie liegt darin, die Affinität zwischen dem von Scholem viel beschworenen religiösen Gefühl und den Erkenntnissen der christlichen Religionswissenschaft herausgestrichen zu haben, wobei Scholems Differenzen zur klassischen Religionsphänomenologie nicht beseite geschoben werden. Folglich werden das religiöse Erleben und das religiöse Gefühl als "verborgene tragende Pfeiler" von Scholems Geschichte der jüdischen Mystik beschrieben. Unter dem Strich bleibt ein fesselndes wie beklemmendes Ergebnis: Scholems Vorstellungen von "der Religion" und "der Mystik" sowie seine Verdienste um die Erforschung der Kabbala werden von Elisabeth Hamacher zwei Traditionen an die Seite gestellt, die Scholem in seinen nicht-kabbalistischen Schriften vehement bekämpft hat: der deutschen und der christlichen. An dieser gleichsam mutigen wie provokanten Schlussfolgerung wird die zukünftige Forschung sicherlich zu knabbern haben.

Titelbild

Elisabeth Hamacher: Gershon Scholem und die Allgemeine Religionsgeschichte.
De Gruyter, Berlin 1999.
99,99 EUR.
ISBN-10: 311016356X

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Titelbild

Eveline Goodman-Thau / Gert Mattenklott / Christoph Schulte (Hg.): Kabbala und die Literatur der Romantik. Zwischen Magie und Trope.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1999.
266 Seiten, 62,40 EUR.
ISBN-10: 348465127X

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