Abgelebte Moderne

Erste Bände von zwei Trilogien der Spätrezeption Büchners

Von Werner WeilandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Weiland

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beide Bände vergegenwärtigen die Steigerung und Variationsbreite der Büchnerrezeption im frühen 20. Jahrhundert. Einschlägige Vorarbeiten (Viehweg 1964 zur Bühnenlaufbahn von "Danton´s Tod", Schanze 1969 zu "Büchners Spätrezeption", Goltschnigg wieder mit diesem Schwerpunkt 1974 und 1975 u. a. Beiträge) werden durch die neuen Publikationen unentbehrlich ergänzt.

Goltschnigg bietet ein überaus vielseitig bereicherndes und bestens eingerichtetes Lesebuch, eine Fundgrube sowohl zu Büchners Attraktivität als auch zur deutschen und österreichischen Geistesgeschichte seit der Gründerzeit. Es handelt sich aber - unbeschadet der feuilletonistischen Vorzüge der Dokumente - auch um ein Handbuch, das ein Standardwerk zu werden verspricht, nur dass es nicht schon auch die sprödere Frührezeption aufbereitet. Den einleitenden und hilfreich gliedernden Abschnitten (74 Seiten) folgt der gewichtige Hauptteil von 125 Dokumenten (373 Seiten). Sie sind teils brillant. Der zusätzliche Kommentar gibt Erscheinungs- und Autordaten und erläutert Bezugselemente der Dokumente. Das Sach- und das Personenregister ermöglichen das Nachschlagen vieler Sektoren, z. B. mit den Stichworten Groteske, Krieg (Weltkrieg), Liberal(ismus), Naturwissenschaft, auch zu zahlreichen Bühnen, Zeitungen und Zeitschriften mit ständigen Ortsangaben.

Indes bleibt vor allem der Leitbegriff der Moderne überdenkenswert. Nicht nur dass er die Frührezeption - zu der auch Büchners Selbstäußerungen gehören - und deren Nachwirkung in den Schatten stellt. Der kritische Wortgebrauch bewahrt neben der rühmlichen Bedeutung des Modernen, des Progressiven, sehr wohl die schimpfliche. So problematisiert Arnold Zweig 1923/25 hinsichtlich der gesellschaftlichen Verhältnisse im "Woyzeck" die "Gemeinschaftsentartung welche moderne Gesellschaft und Machtstaat heißt". Aber in Büchners Brief an Gutzkow vom 31. Mai oder 1. Juni 1836, der nur durch Gutzkows Druck, nicht im handschriftlichen Original überliefert ist, soll es nach Goltschnigg heißen: "die abgelebte modernde Gesellschaft zum Teufel gehen lassen", statt "die abgelebte moderne". Goltschnigg sucht also, und zwar unverkennbar programmatisch zu Beginn seiner Einleitung, das Moderne vom Pranger zu nehmen. Der Schimpf soll auf das Modernde abgelenkt werden, als ob das Moderne nicht abgelebt sei. Doch nicht nur, dass es stilistisch langweilig wäre, wenn Büchner an der Stelle zwei gleichbedeutende Partizipien (abgelebt, modernd) aufgereiht hätte. Goltschnigg merkt zum Überfluss selbst an, dass Büchner das Wort modern sonst nur in der Frage von Lacroix verwende: "Was ist der Unterschied zwischen dem antiken und einem modernen Adonis?" Goltschnigg ignoriert aber die nachdrückliche Beantwortung: "So höre doch, ein moderner Adonis wird nicht von einem Eber, sondern von Säuen zerrissen, er bekommt seine Wunde nicht am Schenkel sondern in den Leisten und aus seinem Blut sprießen nicht Rosen hervor sondern schießen Quecksilberblüthen an."

Die Figur kommentiert also, was modern sei, mit der liederlich komischen Verkehrung und syphilitischen Krankheit. Was außerdem bekanntlich über Büchner hinaus System hat. Dafür steht eine der berühmtesten von Goethes Maximen und Reflexionen: "Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke." Auch in Büchners Sinn, zumindest aber aus der Perspektive von Freunden seines Danton, ist das Antike das Gesunde und Maßgebliche, modern hingegen der Verfall. So beruft Büchners Camille in der ersten "Danton"-Szene die attische Republik mit dem Sokrates gegen "unsere Guillotinenromantik". Dieser Polemik entspricht im Grunde, dass Herbert Ihering 1924 Max Reinhardts "jüngste, 'modernste'" Inszenierung von "Danton´s Tod" spöttisch apostrophiert und ihr "keine innere Notwendigkeit" zugesteht. Die von Goltschnigg im Sachregister unter dem Stichwort Modern(e), Modernität angegebenen Stellen beweisen zwar, dass es von 1901 bis 1913 ein Gemeinplatz wurde, Büchner als "modern" oder mit der "Moderne" zu bezeichnen. Auf eben diesen Trend deutet jene Apostrophierung "modernst". Aber das Missliche des Modernen wurde meist übergangen, was das Schweigen über Büchners abfälligen Wortgebrauch begleitete. Progressiv steht inzwischen postmodern die Inventur des Modernen an. Bei einem Teil der als modern geltenden Anempfindungen und Aufgebote Büchners ist der Begriff modern freilich weder wörtlich bezeugt noch unstrittig passend. Das gilt zunächst für den Berliner Dichterkreis "Durch", der 1887 die "naturalistische Charakteristik" bewunderte und Büchner als "Kraftgenie" pries.

Viehweg leitet seinen Band mit statistischen Ermittlungen ein. Demnach erlebten annähernd eine Million Menschen den "Woyzeck" auf deutschsprachigen Bühnen seit der Münchner Uraufführung am 8. November 1913; die Zahl der allein durch Lektüre vermittelten Begegnungen ist vermutlich geringer. Mit den ersten "Woyzeck"-Aufführungen steht zugleich das Zentenarjahr 1913 im Zentrum von Viehwegs erstem Band seiner Trilogie. Büchner war ja am 17. Oktober 1813 geboren worden. Der Münchner Uraufführung, die ihren spiritus rector in Hofmannsthal in Wien hatte, der nahezu verschwörerisch mit dem Münchner Intendanten Clemens von Franckenstein zusammenarbeitete, folgten die Berliner Erstaufführung am Lessing-Theater am 16. Dezember, deren Besetzung auch in Frankfurt am Main gastierte, und die Wiener Erstaufführung am 5. Mai 1914. Auch Goltschnigg informiert ausgezeichnet in besonderen Abschnitten über Hofmannsthals außerordentliche Verdienste. Grundlegend war dabei der von Franzos erstmals edierte Text (teils in Paul Landaus Überarbeitung von 1909), obwohl er büchnerphilologisch vielfach und gravierend nicht haltbar ist. Die überwiegend positive Aufnahme von 1913 fasste Richard Elchinger in den "Münchner Neuesten Nachrichten" zusammen: "Dieser Zweiundzwanzigjährige beschämt einen ganzen Areopag dramatischer Autoren." Die Theaterleute wollten Büchner aus dem literarhistorischen Archiv herausholen - was auch an den Sturm der Bastille erinnern mag -, wogegen die "Berliner Börsen-Zeitung" ohne prognostischen Wert Skepsis anriet: "für die Dauer wird Georg Büchner nicht aus der Gefangenschaft der Literaturgeschichte auf die Bühne der Lebenden hinüberzuretten sein".

Viehwegs immer wieder mit Zitaten von Dokumenten unterlegte Erzählung der Vorgänge und Hintergründe gibt viel Konkretes mit der allgemeineren Bedeutung. So agierten mehrere Berliner Zensurbeamte überaus engstirnig und schädigten dabei die junge Darstellerin der Marie, indem sie ihr, zum Überfluss erst kurz vor der Aufführung, das sexuell Triebhafte der Rolle verwehrten. Dass sie nun etwas unsicher und fahrig spielte, wurde ihr oberflächlich angekreidet. Der Zensurdruck, der auch Textbeschädigungen verursachte, blieb im Dunkel. Büchner war Projektionsfläche der späteren Richtungen. Er gefiel nach der neuromantischen Strömung wegen der "ersehnte[n] Synthese von Naturalismus und Romantik", so Herbert Ihrering, zumal die Berliner Aufführung nach "Woyzeck" am jeweils gleichen Abend "Leonce und Lena" gab, auch bei dem Frankfurter Gastspiel. In München wurde eine Aufführung von "Danton's Tod" mit der des "Woyzeck" kombiniert, was den einen Abend überfrachtete. Der verelendende Fortgang des Ersten Weltkriegs brachte mit sich, dass die Figur Woyzeck allgemein als Sinnbild der "Opfer, wie in diesem Krieg die Millionen Gemeinen Opfer sind", angenommen wurde.

Da Goltschnigg die essayistischen und die theatergeschichtlichen Ereignisse separiert, kann er dem Zentenarjahr keine gliederungstechnisch zentrale Stellung einräumen. Aber der Benutzer kann mit dem Inhaltsverzeichnis, das neben den Dokumenten die Erscheinungsjahre angibt, bequem Umgruppierungen vornehmen und zeitgeschichtliche Einheiten wie z. B. die Anfänge der Weimarer Republik herausholen. Außer der politischen Linken und der überwiegenden Mitte kommt der rechte Rand nach Julian Schmidt und Treitschke zu Wort. Goltschniggs auf ihre Weise wohlbedachte Untergliederung verschafft mehrmals besonders wichtigen und namhaften Beiträgen die verdient pointierte Stellung am Anfang und Ende von Abschnitten. Treffliche herausgeberische Kurztitel, gegebenenfalls Zitattitel, kennzeichnen ein Charakteristikum beinahe jedes Dokuments und differenzieren die große Menge im Aufriss.

In mehreren Anmerkungen zu Zitaten von Büchners einziger Selbstäußerung zugleich über "Goethe und Shakspeare" (an die Eltern, 28. Juli 1835) tradiert Goltschnigg völlig unnötig die jahrzehntelang erfolgreiche Fehllesung dieser Briefstelle durch Bergemann, demnach Büchner viel auf Goethe "oder" Shakespeare hielt, als ob er sie für austauschbar gehalten hätte. Doch viel wichtiger als dieser Irrtum ist, dass Goltschnigg mehrere bisher nicht registrierte Äußerungen über Büchners Verhältnis zu Goethe zugänglich macht. Darauf möchte ich hier zum Schluss als Nachtrag meiner Studie "Büchners Spiel mit Goethemustern" hinweisen. Die von Goltschnigg neu gesammelten Zeugnisse ergeben eine polemische Attitüde gegen "Weimarer Art" zuerst bei Hausenstein 1913. Zur Vorgeschichte gehört freilich die vormärzliche Goethephobie. Carl Sternheim gab 1921/22 die grobschlächtigste Parole aus: "Behalte die Bourgeoisie Goethe! Wir ziehen Nummern wie Lessing und Büchner allemal vor." Brecht jedoch entriet nicht rundweg dem älteren Goethe, geschweige ihm überhaupt, sondern notierte auf der Linie zum epischen Theater ausdrücklich "beide Teile" des "Faust" vor Grabbe und Büchner. Viehweg teilte auf der Jahrestagung der Büchner-Gesellschaft in Gießen am 30. Juni 2001 im Vorgriff auf den zweiten Teil seiner Trilogie mit, dass Adam Kuckhoffs "Woyzeck"-Inszenierung in Frankfurt 1921 mit einer Aufführung der "Gretchen-Handlung" des "Faust" am gleichen Abend verbunden wurde. Das Theater war damit schneller als die philologische Stellenforschung an der dichterischen Quelle. Außerdem dürfte Goethes Symbolbegriff, wer das "Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät", die Transzendierung des Naturalismus und die dementsprechende Büchnerrezeption nicht nur des 20. Jahrhunderts vorbereitet haben.

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Dietmar Goltschnigg (Hg.): Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentar. Band 1 1875-1945.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2001.
560 Seiten, 75,70 EUR.
ISBN-10: 3503049932

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Titelbild

Wolfram Viehweg: Georg Büchners "Woyzeck" auf dem deutschsprachigen Theater. 1. Teil: 1913-1918.
Books on Demand, Hamburg 2001.
219 Seiten, 11,80 EUR.
ISBN-10: 3831113793

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