Goethe, Dein Schatten ist größer als ich, doch Du bist es nicht

Goethe und F. W. Bernstein, zwei Traditionslinien der Neuen Frankfurter Schule

Von Manuel PfürtnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Pfürtner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im mitteleuropäischen Kulturraum aufwachsend und lebend wird man um einen Namen nie ganz herumkommen, um Goethe. Ob nun in der Schule, Universität oder ganz trivial, wenn zu seinem 250. Geburtstag in der Frankfurter Innenstadt in jedem dritten Schaufenster eine überlebensgroße fette Goetheaktionspuppe steht - überall tritt das Idol des deutschen Geistes in unseren Sinnes- und Gedankenkreis, und Goethes "Faust" drückt sich einfach jedem notwendig aufs Auge.

Eine schöne Möglichkeit der Annäherung an Genie ist die Vermenschlichung. Ein Meister mehrerer Techniken dieser Methode ist der 1938 in Göppingen geborene Berliner Zeichner und Autor F.W. Bernstein. Der Mitbegründer der "Neuen Frankfurter Schule" trotzte schon in der Pardon-Einlage "Welt im Spiegel - WimS" jeglichem Tabu: Ob Goethe, Picasso, Einstein oder Jesus, keine überhöhte Vorstellung und Verblendung war vor der Kritik des absurden Humors gefeit. Unter den sechs Augen von F. W. Bernstein, Robert Gernhardt und F. K. Waechter wurde jede Kultur-Tat wieder zu dem, was sie ursprünglich war: Menschenwerk. Und als Ausdruck des Menschenwerks wurden auch die unterschiedlichsten Aspekte des Genies betrachtet. Die Methode, 1982 im Goethe-Lesebuch von F. W. Bernstein und Eckhard Henscheid breit demonstriert, steigerte geradezu die außerordentliche Vielfalt und Wirkkraft Goethes und seiner Werke (vgl. literaturkritik.de 1999-04-23.html). Das Buch ist eine Sammlung faszinierender Beiträge von und zu Goethe, die die beiden Herausgeber allein unter dem Aspekt der Komik und Komikrezeption ausgewählt haben. Ob Witz, Erzählung, Parodie, Karikatur oder Interpretation: Jeder Beitrag mag zwar Goethe nur aus diesem Sichtwinkel beschreiben, aber das Lesebuch ist das vollkommenste Plädoyer für unseren Olympier, der zugleich Genie ist und Angsthase, Beamter und Witzfigur.

In seinem bislang letzten Streich präsentiert sich F.W. Bernstein auf seinem ureigensten Gebiet: "Goethes Urfaust", von Bernstein illustriert, präsentiert Goethe und Goethefiguren in der komischen Zeichnung. Mit seiner ganz persönlichen Feder interpretiert sich der "kleine" Klassiker F.W. Bernstein Goethes geistige Schöpfungen. Aus dem Vergleich entsteht eine Symbiose. Der Zeichner ist Bindeglied zwischen Genie und Leser. Mit fast kindlicher Klarheit, voller Respekt, aber frei und angstlos begegnet Bernstein dem Genie, als ob er sagen wollte "Du, so hab ich Dich verstanden - aber schämen brauche und werde ich mich nicht." So zeichnet er den nervösen Faust, als hätte er Hummeln im Hintern, da tanzen im Auerbachskeller Schwein und Wildschwein auf den Bänken - und Nacht bedeutet einfach Dunkelheit. Dem "Urfaust" wird die akademische Exklusivität genommen, man schaut und traut sich plötzlich wieder, sich auch hinzustellen und fröhlich dem Genie die Stirn zu bieten. Man weiß einfach wieder, daß ohne die persönliche Interpretation des Nicht-Genie-Lesers jeder Geniestreich nur bedrucktes, ungelesenes Papier ist und daß man Auge in Auge mit dem Saturn viel mehr von ihm erkennt, als wenn man nur seinen Schatten deutet.

F.W. Bernstein: Goethes Urfaust - Aber mit Zeichnungen von F.W.Bernstein.

Haffmans-Verlag, Zürich 1999.

96 Seiten, 18 DM.

ISBN 3-251-00432-8

Eckard Henscheid, F.W. Bernstein: Unser Goethe. Ein Lesebuch.

Verlag Zweitausendeins, Frankfurt 1997.

160 Seiten, 25 DM.

ISBN 3- 86150-295-x

Robert Gernhardt, F.W. Bernstein, F.K. Waechter: Welt im Spiegel - WimS 1964-1976.

Verlag Zweitausendeins, Frankfurt 1997.

553 Seiten, 50 DM.

ISBN 3-86150-050-7

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Titelbild

Robert Gernhardt / F. W. Bernstein / Friedrich Karl Waechter: Welt im Spiegel - WimS. 1964-1976.
Zweitausendeins, Frankfurt 1997.
553 Seiten, 25,60 EUR.
ISBN-10: 3861500507

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Johann Wolfgang von Goethe: Urfaust. Aber mit Zeichnungen von F.W. Bernstein.
Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, Zürich 1999.
96 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3251004328

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