Wie hätte ich mich verhalten?

Jan Philipp Reemtsmas Analyse moraltheoretischer Fragen

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein viel bewunderter Glaubenslehrer in Israel wandte sich einst an den blutlüsternen Mob, der eine Ehebrecherin steinigen wollte, mit dem geflügelten Wort: "Wer unter euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein." Es klingt wie so viele seiner Worte einfach, überzeugend, wahr - und deshalb wird es wahrscheinlich noch heute gern zitiert. Genauso gerne vergisst man dabei die einfache Tatsache, dass sich reale Steine und moralische Steine durchaus nicht gleichen und dass es zwischen Barmherzigkeit, Selbstgerechtigkeit und Rechtsempfinden kategorische Unterschiede gibt.

"Wie hätte ich mich verhalten?" ist eine Frage so einfach wie das Christus-Wort an die Steiniger. Im Titelaufsatz seines neuen Buches jedoch analysiert Jan Philipp Reemtsma mit Ernst und Eleganz die vielfältigen Implikationen, die in ihr verborgen sind. Ihm geht es dabei natürlich nicht um ein privates Gedankenexperiment, sondern um die übliche Verwendung als Argument im Generationenkonflikt. Selbstzweifel der Jüngeren, ob sie sich zwischen 1933 und 1945 moralischer verhalten hätten als die Älteren, wollen den Eindruck der Selbstgerechtigkeit vermeiden. Fast automatisch und zuweilen aggressiv folgt von Seiten der Älteren der Appell, niemand solle urteilen dürfen, der nicht dabei gewesen ist.

In der jüngsten Diskussion über die 68er tauchte diese Forderung verräterischerweise genauso auf wie in der Debatte um DDR-Alltag und Stasi-Verwicklungen, am häufigsten freilich in den Disputen über das Dritte Reich. Schon 1945 begann die unheilige Tradition, als Vertreter der sogenannten "Inneren Emigration" (vor allem Frank Thiess) den Exilanten (vor allem Thomas Mann) jedes Urteilen über Deutschland verbieten wollten, weil sie "von den Logenplätzen" und nur aus der Ferne ihr Vaterland wahrgenommen hätten. Man könnte dagegen (leicht abgewandelt) mit Lessing einwenden: "Ich muss beim Kochen nicht zugesehen haben, um zu wissen, ob das Essen mir geschmeckt hat."

Reemtsma stellt denn auch klar, dass Tatanwesenheit als Vorbedingung für ein Urteil das Ende der Geschichtsschreibung und der Rechtsprechung bedeuten würde. Auch die Forderung nach "anthropologischer Nachsicht" lässt er - Tzvetan Todorov zitierend - nicht gelten: "Wir sind ohne Zweifel alle Egoisten, aber wir werden nicht alle Rassisten, und unter den Rassisten selbst sind in Europa nur die Deutschen zum Akt der Vernichtung übergegangen. Die Menschen sind potentiell alle zum gleichen Bösen fähig, aber sie sind es nicht wirklich, weil sie nicht das gleiche Leben gelebt haben." Schuldfragen werden von Reemtsma also keineswegs vereinfacht; er besteht vielmehr darauf, sich der unbequemen Tätigkeit des Urteilens nicht durch faule Kompromisse hastig zu entziehen.

In diesem wie in den anderen zehn hochpolitischen Aufsätzen erkennt man eine der angelsächsischen Tradition verpflichtete Pragmatik, die nicht auf unerreichbaren und darum frustrierenden moralischen Maximalismus zielt, sondern auf konkrete Wirkung durch moralische Mindest-Standards setzt: ob er den Abschied von der opferungsfreudigen Geschichtsphilosophie fordert oder nach den Gründen für die unerhörte Wirkung der "Wehrmachtsausstellung" forscht, ob er eine "besondere politische Verantwortung der Wissenschaften" kategorisch ablehnt und dafür eine allgemeine staatsbürgerliche einklagt oder nach der "Institutionalisierbarkeit von Menschenrechten" fragt. Selbst der Aktualität geschuldete Aufsätze wie der über Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker", die Laudatio auf Saul Friedländer oder die "nachgeholte Lektüre" von Walsers "Friedenspreis-Rede" behalten - im Gegensatz zu so vielen unbedachten, gefährlich banalen Beiträgen von damals - Substanz und Gültigkeit.

Kein Wunder, dass man bei der Lektüre, die gewisse Ansprüche an die Intelligenz (auch die Klugheit des Herzens) stellt, automatisch Teil hat an "the joy of thinking". Wie auch immer man den Ausdruck übersetzen möchte, für den es (vielleicht nicht ohne Grund) keine deutsche Entsprechung gibt, Denkfreude, der Genuss des Erkennens, die Heiterkeit des Begreifens durchstrahlt Reemtsmas Analyse moraltheoretischer Fragen auf jeder Seite.

Titelbild

Jan Philipp Reemtsma: Wie hätte ich mich verhalten? Und andere nicht nur deutsche Fragen.
Verlag C.H.Beck, München 2001.
250 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3406473989

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