Der Autor mit dem Bienenstich

Frode Grytten singt den Bienenhaussong

Von Torsten GellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Gellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Arbeiterblock in Odda hat viele Parzellen, gleich Waben in einem Bienenstock. In ihm wohnen viele Menschen, gleich Bienen ständig auf der Suche nach etwas süßem Nektar. Den finden sie im Alkohol, im Sex und in der Hoffnung auf etwas Liebe. Es herrscht jeden Tag aufs neue hektische Betriebsamkeit, "die Akkorde des Alltags dringen aus den Fenstern. Geschirrklappern, Popsongs, Fernsehgeräte, Streitereien, Stimmen. Es ist ein neuer Tag, ein neuer Song, ein Bienenhaussong."

"Bikubesong" heißt das auf Nynorsk, der kleineren der beiden norwegischen Schriftsprachen. "Bikubesong", das ist der Originaltitel eines Romans von Frode Grytten, der im Deutschen wenig treffend mit "Was im Leben zählt" wiedergegeben worden ist.

Gryttens Buch, eine Kurzgeschichtensammlung, die als Roman verkauft wird, hat den Charakter einer umfangreichen Anekdotensammlung. Anekdoten über einen ganz und gar unpoetisch anmutenden Ort, der kleinen westnorwegischen Industriestadt Odda, in welcher der Autor 1966 geboren wurde. 25 an der Zahl, einige davon beleuchten Momentaufnahmen, andere raffen auf wenigen Seiten ganze Lebensgeschichten zusammen. Natürlich geht es um Liebe und Entsagung, um verpasste Chancen und Träume von einem neuen Leben außerhalb des Arbeiterblocks. "Die Straße entlang gehen wie ein normaler Mann" heißt eine der besten Geschichten - es sind leider nicht alle von dieser Qualität. In ihr erhält Harry Lund einen Anruf von einer Zeitung, die ihn darüber aufklärt, dass er aufgrund statistischer Erhebungen als der durchschnittlichste Norweger ermittelt worden ist. Seine Kollegen ziehen ihn damit auf, spekulieren über seinen statistischen Durchschnittspenis, und Harry wird langsam klar, dass es eigentlich nichts schlimmeres für einen Menschen geben kann - als Durchschnitt, als nichts Besonderes zu gelten,als empirisch belegtes Mittelmaß. In einem Interview mit der besagten Zeitung fängt Harry in bester Bierlaune allmählich an, falsche Aussagen über sein Leben zu machen. Er unterläuft die Statistik, indem er sich eine neue Identität zurechtlügt und den alten Harry schließlich für tot erklärt. Am Ende will er nur eines, die Straße entlang gehen wie ein normaler Mann. Das klingt nach schick schlichtem Proletarierpathos, doch als Leser der Gryttenschen Prosa weiß man: dieser Neuanfang wird nur bis zum nächsten Kater nur dauern.

Sein umfangreiches Personal reicht vom ewigen Junggesellen mit Morrisey-Shirt und Morrisey-Fensterglasbrille bis zum Spitzenpolitiker, der bei seiner Ankunft mit dem Wasserflugzeug in den Fjord plumpst und durch eine Verkettung glücklicher Umstände seine Impotenz besiegen kann. Diese Gestalten, vor allem die Underdogs unter ihnen, haben alle etwas aufdringlich Liebenswertes an sich. Verschroben-romantische Außenseiter, die trotz ihrer rauhbeinigen oder skurrilen Art sympathisch wirken (sollen). Im richtigen Leben würde man vermutlich Gestalten vom Schlage der "Prinzessin aus Burundi" lieber aus dem Weg gehen. Sie wiegt gute 200 Kilo und arbeitet auch noch in einem Hamburgerladen, ist sich selbst also die beste Kundin. "Someday my Prince will come" - und tatsächlich dauert es nicht lange, bis ihr phänotypischer Gegenpol, ein klapperdürrer Bosnier aufkreuzt und sich vom Fleck weg in sie verknallt. Doch die Angebetete ist aufgrund ihrer Lebens- und Liebeserfahrung misstrauisch und kann nicht glauben, dass sich jemand für sie interessiert. Der Liebesbeweis des Bosniers fällt originell und passend zugleich aus: er frisst sich solange voll, bis er es an Lebendgewicht mit der dicken Prinzessin aufnehmen kann. Am Ende sind die Gewichtungen wieder liebenswert asynchron und beide landen als ungleiches Paar in der Kiste.

Der Klappentext spricht von einem Konstruktionsprinzip ähnlich dem von "Short Cuts", doch anders als bei Robert Altmans virtuos verflochtenen Carver-Storys gibt es bei Grytten keine logischen oder dramaturgischen Verknüpfungen zwischen den Geschichten. Seine Storys werden durch ein wenig Personalroulette, durch ständige Hinweise auf den Schauplatz Odda sowie eine überaus lästige und bisweilen plump gestaltete Bienenisotopie zusammengehalten, wobei letztere so aufdringlich daherkommt wie ein ungebetener Bienenschwarm beim sommerlichen Kaffeeklatsch. Da ist einmal im Nebensatz von einem virilen Menschen mit dem plastischen Namen "Fotzenjäger" die Rede, dessen gerechtes Schicksal dann später in einer anderen Geschichte abgehandelt wird: Er wird nach einem seiner zahlreichen Tête-à-Têtes mit den einsamen Oddaer Ehefrauen von seinem "Wespennest" genannten VW-Käfer überrollt; am Steuer will er mindestens 35 gehörnte Ehemänner gesehen haben.

Die Sumsemann-Isotopie hat der Autor offensichtlich soweit verinnerlicht, dass man bei der Lektüre förmlich die Hummeln im Hintern fühlen kann. Die 25 Arbeiterschicksale klappert er in energischem Tempo ab, dass oftmals nicht viel mehr übrig bleibt als ein paar hektisch hingeworfene Lebensläufe. Aber zwischendurch fließt dem Autor wieder die ein oder andere Geschichte aus seiner Feder, die durch Witz und Poesie überzeugen.

Titelbild

Frode Grytten: Was im Leben zählt. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2001.
330 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3312002850

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