Manche schöpfen tiefer

András Horn über mögliche Ursprünge der literarischen Kreativität

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Woher kommt das Schöpferische der Dichter, fragt András Horn. Ist es göttliche Eingebung? Genie? Liegt es einfach an der größeren Phantasie der Dichter? Kommt das Schöpferische aus dem Unbewussten? Welche Rolle spielen Alkohol und Drogen beim kreativen Prozess? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kreativität und Geisteskrankheiten? Oder ist alles doch nur eine Frage der Genetik?

Will man erkunden, warum (und wie) Dichter ihre Ideen haben, ist man auf die Auskünfte der Dichter selbst angewiesen. Doch deren Werkstattberichte bereiten Schwierigkeiten. Zu gerne pflegen Künstler das Bild von sich, dass ihre Kreativität etwas Mystisches sei, etwas, das sie sich selbst nicht so recht erklären können. Rainer Maria Rilke schrieb innerhalb von vier Tagen den ersten Teil der "Sonette an Orpheus" nach eigener Auskunft "in einem einzigen atemlosen Gehorchen". Es sei das "rätselhafteste Diktat" seines Lebens. S. T. Coleridge berichtet über sein Gedicht "Kubla Khan", dass es ihm während eines dreistündigen Schlafes im Sessel im Garten eingegeben worden sei. Wieder aufgewacht, sei er aufgestanden und habe das Gedicht sofort niedergeschrieben - und daran nichts mehr geändert. Da lacht E. A. Poe und legt seinen Essay "The Philosophy of Composition" vor. Lyrik sei eine Frage der Deduktion, will er anhand der Entstehung seines Gedichts "The Raven" beweisen. Eins ergebe sich aus dem anderen und selbst sein berühmtes "Nevermore" habe sich aus der Logik heraus ergeben. Zeilen, Strophen, gar fertige Gedichte, die einfach vom Himmel ins Gehirn des Künstler fallen - Unsinn! Natürlich haben sowohl S. T. Coleridge und E. A. Poe recht und unrecht zugleich. Der eine konzentriert sich auf den Inspirationsfunken und unterschlägt dabei die mühevolle Aus- und Weiterbearbeitung eines poetischen Werks. Der andere ignoriert, dass seine Ableitung beim näheren Hinsehen doch nicht so stringent ist und damit das Auftauchen von Ideen und Kreativität außen vor lässt.

"Von Umberto Eco stammt die lakonische Feststellung: 'Wenn ein Autor behauptet, er habe im Rausch der Inspiration geschrieben, lügt er.' Eco verweist auf einen exemplarischen Fall bei Lamartine, der über eines seiner Gedichte äusserte, 'es sei ihm spontan eingefallen, urplötzlich in einer stürmischen Nacht im Walde: "Als er gestorben war, fand man eines seiner Manuskripte mit zahlreichen Korrekturen und Varianten, und besagtes Gedicht erwies sich als das vielleicht am meisten 'bearbeitete' der gesamten französischen Literatur."

Sowohl Inspiration und Konstruktion wirken beim künstlerischen Prozess zusammen. Auch ist es sinnvoll, zwischen einer "Vor-Inspiration", also einer Idee, die bereits vor der eigentlichen Arbeit vorhanden ist, und einer "Während-Inspiration", also Ideen, deren sich der Künstler erst während des künstlerischen Arbeitens bewusst wird, zu unterscheiden. Doch die Frage "Woher die Inspiration bzw. das konkret Eingegebene, der Einfall?" Ist mit einer solchen Zweiteilung noch lange nicht beantwortet: "Woher fällt er ein?"

András Horn, der klar und unaufgeregt schreibt, begibt sich auf Spurensuche. Sehr viele, auch sehr ausführliche Zitate von Schriftstellern und deren Exegeten werden aufgeboten. In sechs Kapiteln handelt András Horn so gut wie alles ab, was irgendwie, irgendwo und irgendwann in Verbindung mit Kreativität gesetzt worden ist. Die neun Musen, das besondere Einfühlungsvermögen der Schriftsteller und deren "unterschwelliges Wissen über Ausdruckswerte einzelner Laute", die Fähigkeit zur Abstraktion, um nur ein paar Stichwörter zu nennen. Er argumentiert mit Dilthey, schaut nach tiefenpsychologischen Erklärungen bei Freud und Jung und sucht in den sozialen Umfeldern der Schriftsteller nach inspirationsbegünstigenden Einflüssen. Bei so vielen Querverweisen, Namen, Theorien und Vermutungen bleibt leider wenig Raum, einzelne Gedanken ausführlich darzustellen. Vielleicht ist dies aber gut so, denn so bleibt es dem Leser überlassen, sich selbst weitere Gedanken beispielsweise über den Zusammenhang zwischen Schizophrenie und Kunst zu machen - auch ein Thema, welches András Horn kurz anreißt. Doch nachdem man selbst kreativ geworden ist und im Geiste an einer Metatheorie gebastelt hat, holt Horn den Leser auf den Boden der Tatsachen zurück. "Nach all dem scheint es fruchtbarer, statt nach dem Warum nach dem Wie zu fragen."

Mit zwei Theorien, die sich in ihrem Pragmatismus auf das Konkrete im künstlerischen Prozess beziehen, beendet Horn sein Buch über die Ursprünge der Kreativität. Da ist auf der einen Seite die Rückkopplungstheorie von Peter von Matt und Michael Klein, die eine Variante des bekannten hermeneutischen Zirkels darstellt - und letztendlich darüber hinaus nichts Neues liefert. Auf der anderen Seite erläutert András Horn die Bisoziationsthese von Arthur Koestler, die sich - bei Koestler wenig verwunderlich - als dialektisches Modell entpuppt. Das Allgemeine und das Besondere werden synthetisiert. Konkret kann das auch eine Brechung von Klischees sein, und um András Horn zu zitieren, der Arthur Koestler zitiert, der wiederum Oscar Wilde zitiert: "How else but through a broken heart / May Lord Christ enter in?"

Festzuhalten bleibt: Die Frage nach nach dem Kreativitätsursprung der großen Dichter bleibt ein Mysterium. Doch man muss kein William Shakespeare oder Franz Kafka sein, um aus eigener Erfahrung heraus eigene kreative Leistungen in all diesen von András Horn angesprochenen Punkten widergespiegelt zu sehen. Wahrlich, es scheint sinnvoller, sich mit dem Prozess schöpferischen Gestaltens zu befassen, als ständig nach dem Warum zu fragen. Ein Warum wäre vielleicht interessanter bezüglich der Definition von 'kreativ'. Und warum manche tiefer schöpfen, hängt auch von der zeitlichen Warte ab, von der das Werk beurteilt wird. András Horn arbeitet in seiner Zusammenstellung synchron, nicht diachron. Doch letzteres war nicht sein Anliegen. Sein Werk in seinem klaren Stil und in seiner angebrachten Zitierwut uneingeschränkt empfehlenswert für all diejenigen, die etwas über ihre eigene Kreativität erfahren wollen.

Titelbild

Andras Horn: Das Schöpferische in der Literatur. Theorien der dichterischen Phantasie.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
119 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3826018524

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