Let's talk about sex

Was Sie schon immer über Sexualität und Erotik im 15. und 16. Jahrhundert wissen wollten

Von Christine KanzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Kanz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie haben die Menschen im frühneuzeitlichen Deutschland über das "Werk der Liebe" gedacht, gesprochen und geschrieben? Inwiefern unterschieden sich die Auffassungen der Theologen über Sexualität und Erotik von denen der Mediziner, Philosophen oder Schriftsteller jener Epoche? Unterschieden sie sich überhaupt? Solche Fragen bewegten den Linguisten Tilmann Walter in seiner Dissertation und veranlaßten ihn, schriftliche Relikte dieser vergangenen Zeit zu untersuchen. Seine heuristische Beschäftigung mit verschiedenen deutschsprachigen Textzeugnissen ist dabei synchron angelegt. Sie ist, obwohl dies der Untertitel "Diskurse über Sexualität am Beginn der Neuzeit in Deutschland" nahelegt, keine Diskursanalyse im Sinne Foucaults, und will es auch nicht sein.

Nach einer Einführung in die "Geschichte der Sexualität" geht es dem Verfasser um die zentrale Rolle der Theologie bei der Diskursivierung von Sex. Ausführlich beschreibt er die Sexualdogmatik der spätmittelalterlichen Kirche, das Verhältnis von Priestern zu Erotik und Ehe, Martin Luthers Aussagen zu Ehe und Sexualität und schließlich die "sexuellen Argumente in der polemischen Literatur der Reformationszeit". Die von ihm untersuchten Quellentexte, so sein Fazit, lassen die von der katholischen Sündenlehre repräsentierte "Matrix des Wissens über den Sex und seine moralische Bewertung" zumindest indirekt durchscheinen. Sie habe die Vorstellungen vom Menschen des 15. und 16. Jahrhunderts "in ähnlicher Weise vorgeprägt [...], wie es heute die inhaltlichen Botschaften der biologischen Humanwissenschaften tun". Nicht nur sexuelle Handlungen, sondern bereits erotische Blicke und Gesten, ja schon sexuelle Gedanken und Wünsche galten der katholischen Sexualethik als gotteslästerliche Sünde. Je unsinnlicher und asexueller ein Mensch erschien, desto reiner und damit höherwertiger war er aus der Sicht der katholischen Kirche. Erst der Protestantismus trat dieser Sexualfeindlichkeit entgegen. In dieser Loslösung sieht der Autor eine Parallele zu heute: Im 20. Jahrhundert habe nach dem Ersten Weltkrieg ein "Sog der Liberalisierung" zu offeneren moralischen Positionen geführt: zum "wohlwollenden Sprechen von der Masturbation, von den gleichgeschlechtlichen Erfahrungen, von den ureigensten privaten und intimen Ausprägungen der Lust". Auch sodomitische oder andere "perverse" Formen sexuellen Verhaltens seien im Zuge dieser Befreiung zunehmend für "normal" oder sogar "nützlich" erklärt worden. Damit hätten sich die sexologischen Experten hinsichtlich der moralischen Wahrheiten der Humanbiologie und der Tiefenpsychologie in ähnlicher Weise zu distanzieren vermocht, wie sich der Protestantismus seinerzeit vom anthropologischen Bild der scholastischen Naturkunde lösen konnte. Solche Aktualisierungen dienen dem Autor auch dazu, die Gleichwertigkeit unterschiedlicher historischer Weltbilder und damit auch deren Konstruktionscharakter zu untermauern. Vehement spricht er sich mehrfach dagegen aus, "die Lebensentwürfe und die Lebenspraxis von Menschen zu entwerten", nur weil, wie er freilich etwas salopp formuliert, "diese inzwischen verstorben sind".

Im Mittelpunkt des (für Literaturwissenschafler sicherlich spannendsten) Großkapitels über "das Erotische, Obszöne und Pornographische in der Dichtung" steht unter anderem die Darstellung des vor- und außerehelichen Flirts in literarischen Texten, einem beliebten Thema in der unterhaltenden Literatur des ausgehenden Mittelalters. In der literarischen Welt der Romane, so wird deutlich, betrachtete man damals die ehelichen Beziehungen und die "amour passion" als unvereinbare Erscheinungen - ein bis in die späteren Jahrhunderte gern aufgegriffener Topos, denkt man etwa an Fontanes "Effie Briest" oder an Flauberts "Madame Bovary". Typisch für eine solche literarische Darstellung der "buhlschaft" in frühneuzeitlichen Texten ist daher in jedem Fall also eine nichteheliche Beziehung. Denn, so erklärt der "buhler" in Johann Hartliebs "De Amore"-Übersetzung: "lautter offenbar und war ist das, das rechte lieb vnd mynn zwischen ee leütten nit sein mag", denn die Liebe in der Ehe komme "von gepot vund gesetz" und nicht "von freyem müt". Der Kitzel des Heimlichen und Verbotenen, der die wahre Liebe ausmache, bestehe nur außerhalb der Ehe. Die Beschreibungen von Flirts und erotischen Affären, wie sie vor allem in den frühen Fastnachtsspielen und in der Märendichtung zuhauf vorkommen, sind dabei weitgehend frei von moralischen Bewertungen. In ihrer stereotypen Schilderung und ihrer fast ausschließlichen Reduktion auf körperliche Vorgänge würden sie heutzutage wohl als pornographisch bezeichnet werden - eine Frage, mit der sich Tilmann Walter jedoch nur am Rande beschäftigt: "Für die Verfasser und das literarische Publikum dieser Dichtungen lag der Reiz anscheinend gerade in der mangelnden Dezenz der Darstellung und in der geballten Ladung derb-obszöner Metaphern, die dabei Verwendung finden." Allerdings kam den Fastnachtsspielen doch eine etwas andere Funktion zu, ging es ihnen doch weniger darum, das Publikum zu erotisieren als es zu belustigen. In dem "Spil von Narren" von Hans Folz etwa treten mehrere "buhlerische narren" auf, die über ihre Mißgeschicke bei vorehelichen Affären berichten. Als Buhler wurden pubertierende junge Männer bezeichnet, die auf der Suche nach sexuellen Abenteuern waren. Zu Objekten der Komik, zu Narren, wurden sie dann, wenn sie sich dabei so ungeschickt anstellten wie die folgenden drei Knaben:

"mir offnet einest ir gaden ['Kammer']

Und wurd mich in ir petlein laden,

da solt ich ir ein igel stechen; ['mit ihr schlafen']

Da west ich nichts an im zu rechen

Und greif bald dar; da ward es sich strauben;

Ich ruckt mein degen ['Penis'] bei der hauben.

Ich dacht: Zuck ich, ich kum umb das gelt.

Ich hoff, das man mich kein narrn darumb zelt.

Der dritt:

Ich tet mich auch zu einer nehen,

Das sie mich pat, ir wislein zu meen; [mit ihr zu schlafen']

Des han ich mich nu vil gerümt

Und habs mit worten nit verplümt

Und unversunnen herauß lan farn. ['ausgesprochen']

Das man mich zelt darumb für ein narrn,

Furwar so sol es nit mer geschehen,

Wolt man mir neur das ubersehen [...]

Der Funft:

Ich bin ie auch ertrunken darinn,

mir lag ein weip gar hart im sinn,

Das ich ir wolt mein henslein ['Penis'] geben,

Der wer ir in die kuchen [lies "Küche", gemeint ist die Vagina] eben,

Das man das Fleisch bei dem ars anricht.

Nu han ich lang nach ir geticht ['für sie gedichtet']

Piß sie mir zilet an iren laden,

Do wurd sie mich mit spulwasser baden."

Diese Beispiele zeigen, daß Impotenz sowie vorlaute sexuelle Angeberei oder die unfreiwillige Dusche eines zu aufdringlichen Verehrers Gegenstand der Komik sein konnten. Sie zeigen auch, wie unverhüllt Sexualität dargestellt wurde.

Während die jungen Männer sexuelle Erfahrungen machen sollten und sich 'austoben' durften, wurden umgekehrt junge Frauen, die es wagten, ein erotisches Interesse zu zeigen, mit Vorwürfen bedacht. So schimpft bei Hans Sachs eine Hausfrau ihre Magd (die in einem fremden Haushalt nicht mehr der strengen Aufsicht der Eltern unterworfen ist):

"Das du dich so offt stelst allein,

Dich graplen ['begrabschen'] last die jungen gsellen,

Als ob sie kelber kauffen wellen."

Bewußt bringt Walter - was bei dem Thema ja auch naheliegt - immer wieder Beispiele für Abweichungen von den üblichen Geschlechterkonstrukten und trägt auch sonst den neueren Erkenntnissen der mediävistischen Genderforschung (Caroline Walker Bynum, Ingrid Bennewitz, Heide Wunder, Thomas Laqueur) Rechnung. Eine bewußte Umkehrung von Genderstereotypen findet er beispielsweise bei dem Autor Michael Lindener, bei dem ein jung verheirateter Ehemann, dessen junge Frau ihm gerade eröffnet hat, sie sei nicht mehr Jungfrau, eher pragmatisch reagiert:

"So fehrte der bräwtigam herauß und sagt: 'Ey so darffest du nicht gedencken, daß du mehr dran sterbest! So bin ich auch einer mühe uberhaben, wenn du es zuvor erlitten hast."

Auch Differenzkategorien wie Judentum oder Homosexualität werden vom Verfasser ab und an reflektiert, was seine Studie auch für die Genderforschung interessant macht. Gelegentlich undurchdacht hingegen bleibt sein eigener Standort, gerade wenn es um die Rezeption mittelalterlicher Literatur geht. Einerseits reflektiert er beispielsweise das Rezeptionsphänomen komischer Texte, unterläßt aber ähnliche (die historische Distanz miteinbeziehende) Überlegungen hinsichtlich möglicher erotisierender Wirkungen von Literatur. Auch ist seine Argumentation gelegentlich zu subjektiv, beispielsweise dann, wenn er seine doch sicherlich vorwiegend wissenschaftliche Leserschaft nicht mit seiner persönlichen Erfahrungs- und Erlebniswelt verschonen mag. Oder warum muß er mitten im Haupttext betonen, daß er derb-erotische Späße und Berichte über sexuelle Erlebnisse im Freundeskreis auch heute noch für allgemein üblich hält?

Nach seinen etwas knapp geratenen Ausführungen über "Ehemänner, Ehefrauen und die Techniken der guten Ehe in der erbaulichen und unterhaltenden Literatur", die ohne ein größeres Fazit bleiben, beschäftigt sich der Autor ausführlich mit frühneuzeitlichen medizinischen Quellen. In weiten Teilen der medizinischen Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, so das Ergebnis, hat "so etwas wie ein moralischer Minimalkonsens" gewirkt, nach dem "eine maßvoll betriebene genitale Sexualität [...] eine im Interesse der Gesundheit unumgängliche körperliche Handlung war. Im Interesse des Seelenheils sollte sie jedoch ausschließlich im Rahmen der Ehe vollzogen werden." Während Walter die erste "Wahrheit" noch als ein Erbe der antiken Medizin betrachtet, kann er für letztere schlichtweg keinerlei medizinische Begründung entdecken.

Die Arbeit mündet schließlich in ein Kapitel, "das sich mit einigen im gesellschaftswissenschaftlichen Diskurs verbreiteten Ansätzen" auseinandersetzt. Walter versucht hier, die "'Geschichte der Sexualität' in eine Theorie langfristiger, gerichteter Prozesse einzuordnen". Mit "verbreiteten Ansätzen" sind hier vor allem die Zivilisierungs- und Disziplinierungsstudien von Norbert Elias, Philippe Ariès und Michel Foucault gemeint. Etwas frappierend ist dabei vor allem, daß der Verfasser den größten Sexualitätstheoriker unseres Jahrunderts, also Freud, ignoriert, obwohl doch insbesondere Elias Theoriegebäude ohne die Überlegungen der Psychoanalyse nicht zu denken wäre.

Weshalb er die Arbeit mit einer Diskussion des gegenwärtigen Forschungsstands statt mit einer Zusammenfassung seiner eigenen Ergebnisse beschließt, begründet der Verfasser mit dem ehrlichen Eingeständnis, eigentlich keine Antworten auf die seine Studie initiierenden Fragen gefunden zu haben. Denn ob es "in der Neuzeit prozeßhafte Wandlungen beim Umgang mit der Sexualität" oder "ein verstärktes Bedürfnis nach einer Kontrolle des sexuellen Verhaltens breiter Schichten der Bevölkerung" gegeben habe, könne man "in der Praxis" ohnehin mit jeder für das Mittelalter gemeinhin akzeptierten Tatsache begründen. So könne etwa die Dreifelderwirtschaft genauso als Erklärung für eine veränderte Vorstellung von "Liebe" herangezogen werden wie das Bevölkerungswachstum oder das Fehlen einer äußeren Bedrohung in diesem Zeitraum.

Bei der Diskussion der bisher vorliegenden makrotheoretischen Ansätze, mit deren Hilfe versucht worden ist, solche Fragen zu beantworten, geht es ihm dann weniger darum zu beurteilen, welches Erklärungssystem der historischen Wahrheit am nächsten kommt; vielmehr liegt ihm an einer "Beurteilung der historischen Validität, der Beschreibungsadäquatheit und der inneren und äußeren Widersprüche dieser Deutungsversuche". Besonders harsche Kritik erntet dabei Norbert Elias, dem er vorwirft, in seinen zivilisationstheoretischen Entwürfen insbesondere die Aussagen der Kirche ignoriert und sachlich unrichtige Behauptungen über mittelalterliche und vormoderne Einstellungen zur Sexualität aufgestellt zu haben. Was Elias etwa als "exklusives Merkmal des neuzeitlichen Zivilisationsprozesses" angesehen habe, das Ideal vorausschauenden Handelns, gehöre "in Wirklichkeit zu den moralischen Grundwerten der christlichen Religion". Außerdem argumentiere Elias zirkulär und habe sein Theoriegebäude nicht bis zum Ende durchreflektiert. Michel Foucault sei da historisch schon etwas genauer, wenn auch zu eindimensional katholisch ausgerichtet. Zudem beachte er zu wenig die Pluralität von Diskursen. Die französischen Mentalitätshistoriker wie Philippe Ariès, Jean Delumeau und Robert Muchembled dagegen hätten immerhin die "modernisierende" Funktion des Reformkatholizismus deutlich gemacht. Gleichwohl seien sie insgesamt (Delumeau mit Einschränkungen) in ihrer Konzentration auf Frankreich "Kulturchauvinisten", da auch sie die Kirchenhistoire Deutschlands, die "Quellenlage im Nachbarland", ignorierten.

Außerdem hagelt es Hiebe gegen die Systemtheorie, insbesondere "Luhmanns rhetorisches Luftgebäude aus 'Systemen', 'Prozessen' und binären 'Codes', in dem der Mensch überhaupt nicht mehr erscheint", gegen den Poststrukturalismus aber auch gegen die historischen Sozialwissenschaften. Diese hilflos anmutenden Schimpftiraden verwundern wenig: Zur Sexualität in der frühen Neuzeit gibt es bereits so viele Studien, daß Walter einerseits auf einige Theoriegebäude aufbauen kann, andererseits aber selbst keine innovative Theorielösung anbieten kann, so daß ihm zur Profilierung wenig mehr übrigbleibt als eine deutliche Abgrenzung.

Insgesamt stellt die Studie vor allem ein Plädoyer für mehr und intensiveres Quellenstudium und philologische Redlichkeit dar. Da der Autor in dieser Hinsicht überwiegend selbst sehr genau und gründlich vorgeht, ist sein Buch vor allem anderen dies: eine interdisziplinär angelegte Quellensammlung, die kulturhistorisch gleichermaßen ergiebig ist für Mediävisten und Neugermanisten, aber auch für Theologen, Philosophen, Psychologen und Medizinhistoriker oder modischer formuliert: für Kulturwissensschaftler/innen.

Titelbild

Tilmann Walter: Unkeuschheit und Werk der Liebe. Diskurse über Sexualität am Beginn der Neuzeit in Deutschland.
De Gruyter, Berlin 1998.
560 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3110160854

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