Die SPD, Mona Lisa und Weimars Niedergang

Ute Maack stellt Kurt Tucholskys Texte des Jahres 1928 vor

Von Ralf Georg CzaplaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Georg Czapla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kurt Tucholsky gehört zu den meistzitierten Autoren unserer Zeit, keineswegs aber zu den meistgelesenen. Nahezu jedermann vermag mit einigen griffigen Tucholsky-Zitaten aufzuwarten. Der wehrlose Autor wird im politischen Disput von Parteien unterschiedlichster Couleur für die eigene Sache reklamiert. Linke Intellektuelle sehen sich fast schon traditionell in seinen Attacken gegen eine halbherzige Sozialdemokratie bestätigt, Konservative verstehen es bestens, Tucholskys späte Angriffe auf den Kommunismus und auf einen naiven Pazifismus für die Tagespolitik zu nutzen.

Tucholsky nicht nur als Zitatgeber, sondern auch als Autor wieder bewusst werden zu lassen, ist das Ziel der 1996 von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp und Gerhard Kraiker begonnenen Gesamtausgabe in 22 Bänden, die bis 2004 die zehnbändige Auswahlausgabe von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz als Arbeitsgrundlage der internationalen Tucholsky-Forschung abgelöst haben soll. Der Sinn des Unternehmens ist in der Vergangenheit verschiedentlich in Frage gestellt worden, da zeitgleich eine konkurrierende CD-ROM-Edition seiner Werke im Entstehen begriffen ist, die heutigen wissenschaftlichen Bedürfnissen weitaus angemessener zu sein scheint. Tucholsky freilich hätte sich niemals träumen lassen, dass seine Werke einmal auf einem elektronischen Medium gespeichert würden, und hätte als Mitarbeiter der "Schaubühne" und Herausgeber der späteren "Weltbühne" solchen Unternehmungen wohl auch skeptisch gegenübergestanden. Geht man von einem durchschnittlichen Umfang von 1.000 Seiten pro Band aus, so dürften die 15 Text- und sechs Briefbände insgesamt 21.000 Seiten umfassen. Hinzu soll ein Registerband kommen, der weitaus detaillierter als die einem jeden Band beigefügten Personen- und Werkregister das Corpus der Schriften Tucholskys erschließt. Dass sich mit Hilfe einer CD-ROM-Edition einzelne Zitate und Begriffe noch schneller und zuverlässiger verifizieren lassen, steht außer Frage. Andererseits birgt die Möglichkeit des raschen punktuellen Zugriffs auch eine große Gefahr: Texte werden bis zur Satz- und Wortebene fragmentiert, das Textganze gerät leicht aus dem Blick, und indem sich der Leser gewissermaßen von Fundstelle zu Fundstelle hangelt, wird Tucholsky das, was er gar nicht sein soll, eine Fundgrube für Zitate. Das Konzept der bei Rowohlt erscheinenden Gesamtausgabe ist daher ein anderes. Die einzelnen Bände verstehen sich bei aller philologischen Gediegenheit in erster Linie als Lesebücher. Einmal aufgeschlagen, bleibt die Aufmerksamkeit schnell an einer der geistreichen, man möchte fast sagen Tucholsky-typischen Textüberschriften haften. Man wird zum Weiterlesen angeregt, von einem Text zum nächsten geführt, und die Lektüre rundet sich allmählich zu einem Gesamteindruck von Tucholskys literarisch-publizistischer Tätigkeit.

Band 10 der Gesamtausgabe, den Ute Maack herausgegeben hat, bildet da keine Ausnahme. Er versammelt die Texte des Jahres 1928 und führt den Leser nicht nur in ein Jahr, das durch die Trennung von seiner geliebten Ehefrau für den Privatmann Tucholsky ein bitteres war, sondern auch in die Endphase der Weimarer Republik. Tucholsky nimmt das zehnjährige Bestehen der Weimarer Demokratie zum Anlass für eine kritische Bestandsaufnahme: Gustav Stresemanns Politik einer deutsch-französischen Verständigung stagniert, gleichzeitig gewinnen nationalistische und revanchistische Strömungen immer größeren Einfluss auf der Straße und im Parlament. Der Reichstag bewilligt den Panzerkreuzerbau, die Reform des Strafrechts scheint auf die Beibehaltung der Todesstrafe und des Abtreibungsparagraphen sowie auf die Verschärfung des Landesverratsparagraphen hinauszulaufen. In seinen Aufsätzen wendet sich Tucholsky wiederholt gegen die Politik der Sozialdemokraten, deren Kompromissbereitschaft die längst gebotene Justizreform vereitelt. Die kommunistische "Arbeiter Illustrierte Zeitung" und die "Weltbühne" dienen ihm als Foren für die politische Auseinandersetzung, in der "Vossischen Zeitung" entwirft er sein Programm einer deutsch-französischen Verständigung. Dort druckt man auch seinen populären Schlager "Wo kommen die Löcher im Käse her?", der neben anderen Schriften zum Besten gehört, was die deutsche Satire zu bieten hat. Blickt man in das Namensregister des Bandes, so glaubt man das "Who's who?" der zwanziger Jahre aufgeschlagen zu haben. Kaum ein prominenter Name aus Politik, Kunst und Gesellschaft fehlt. Andererseits findet man Namen, die man weniger dort erwartet hätte, wie etwa Aristophanes, Buddha oder Salomo. Der zehnte Band der Gesamtausgabe zeigt Tucholsky auf dem Höhepunkt seines literarischen Erfolges. Der Schriftsteller gibt sich nicht nur gewohnt spitzzüngig und bitter-ironisch, sondern löst in nur fünfzehn Versen eines der großen Rätsel der Menschheit, das Lächeln der Mona Lisa:

Ich kann den Blick nicht von dir wenden.

Denn über deinem Mann vom Dienst

hängst du mit sanft verschränkten Händen

und grienst.

Du bist berühmt wie jener Turm von Pisa,

dein Lächeln gilt für Ironie.

Ja... warum lacht die Mona Lisa?

Lacht sie über uns, wegen uns, trotz uns, mit uns, gegen uns -

oder wie -?

Du lehrst uns still, was zu geschehen hat.

Weil uns dein Bildnis, Lieschen, zeigt:

Wer viel von dieser Welt gesehn hat -

der lächelt,

legt die Hände auf den Bauch

und schweigt.

Titelbild

Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
1120 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3498065394

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