Tand, Tand / Ist das Gebilde von Menschenhand!"

Über Jenny Erpenbecks Erzählband

Von Christina LangnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Langner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Tand, Tand / Ist das Gebilde von Menschenhand!" Diese Zeilen aus Fontanes Ballade "Die Brück' am Tay" dürfte dem Leser noch aus Schultagen im Gedächtnis sein. Jenny Erpenbeck inspirierten sie zu der Erzählung "Tand". In der Titelgeschichte ihres neuen Erzählbandes lässt die Autorin ihre Ich-Erzählerin das Verhältnis zur Großmutter beleuchten, die ihr in merklichem körperlichen und geistigen Absterben "jetzt hin und wieder verloren" geht.

Ist es in Fontanes Text die menschliche Technik, die an den Naturgewalten scheitert, so geht es in Erpenbecks Geschichte um den Alterungsprozess, gegen den der Mensch mit Hilfe von allerlei Tand anzugehen versucht. Letztlich erweist sich die Naturgewalt freilich als stärker. Die Brücke stürzt ein, mit ihr der Zug in die Fluten - und die Großmutter ist auf dem Weg, "ganz in Natur überzugehen".

Jenny Erpenbeck machte jüngst von sich reden als sie im Juni für ihre in diesem Band enthaltene Erzählung "Sibirien" beim Klagenfurter Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde.

Die immer wiederkehrende Formel "sagt mein Vater" trägt den Text und erinnert gleichsam daran, dass die Erzählerin die Geschichte aus der Perspektive ihres Erzeugers schildert. Dessen aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrte Mutter erobert ihren Mann von seiner Geliebten zurück und verliert ihn darüber: "Man glaubt es nicht", zitiert die Tochter ihren Vater, "wieviel Kraft ein Mensch aufbringt, nur um das, was war, wieder in die Gegenwart zu ziehen."

Nach einer Buchbinderlehre studierte Jenny Erpenbeck in Berlin Theaterwissenschaften und Musiktheaterregie, unter anderen bei Ruth Berghaus und Heiner Müller. Inzwischen hat sie in Deutschland und Österreich mehrere Opern und Musicals inszeniert, von "Hänsel und Gretel" bis zu "Kiss me, Kate!".

Die Ich-Erzählerin in "Atropa bella-donna" spricht über die lange währende, nie erwiderte Liebe zu ihrem besten Freund, dem sie mehr als eine Schwester sein möchte. Sie bleibt Beobachterin, wenn der, den sie liebt, eine andere zärtlich in die Arme schließt. "Daß ich immer nur sehen darf". - Dieser Schmerz der unerfüllten Liebe, die Eifersucht auf den schönen Menschen, dem das gehört, was man selbst begehrt: Für den Leser bekannte, selbst bereits erfahrene und vielleicht verdrängte Empfindungen.

Mit ihren Worten kratzt Erpenbeck an der Oberfläche, fängt auf faszinierend verstörende, bisweilen bald brutale Weise diese alten Gefühlen ein und lässt sie den Leser neu erleben. Angenehm dezent ist sie in ihrer Verwendung des poetischen Vokabulars. Die zurückhaltende und unspektakuläre Ruhe der Sprache erzeugt die den Texten Erpenbecks anhaftende so eigene Stimmung: Eine sonderbar erfüllende Melancholie.

Das Mädchen in der Geschichte verliert über seinen Schmerz das Gleichgewicht: "Zwar äußerlich kann man das nicht sehen, aber innerlich kippt etwas aus mir heraus, und wo das vorher war, ist nun ein Hohlraum in meinem Inneren, eine wüste Stelle, ein Nichts, das jedoch großen Raum beansprucht."

Das alltägliche Miteinandersein der Menschen, ihre Beziehungen zueinander, ihre Ängste und Schwächen, Kräfte und Stärken sowie letztlich deren unerfüllte Sehnsüchte und verschenkten Chancen sind es, von denen die Erzählungen des Bandes handeln.

Bei der Lektüre der Geschichten stellt sich des öfteren ein déjà vu-Gefühl ein. Erpenbeck erzählt nichts Neues, aber das auf eine neue, sprachlich beeindruckend exakte und wunderbare stille Art.

Titelbild

Jenny Erpenbeck: Tand. Erzählungen.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
120 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3821806966

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