Vorbemerkung

Vor vier Jahren erschien in den USA Daniel Golemans "Emotionale Intelligenz". Was das auch in anderen Ländern schnell zum Verkaufsschlager avancierte Buch zum Thema "Emotionen" zu sagen hatte, war nicht neu, sondern faßte in wissenschaftsjournalistischer Form, doch durchaus mit eigenwilligen Akzentsetzungen zusammen, was Emotionspsychologen und -biologen darüber in dem Jahrzehnt zuvor an umstrittenen Thesen hervorgebracht hatten. Von dem Phänomen Goleman angeregt ist der erste Beitrag zu unserem Themenschwerpunkt. Er hat programmatischen Charakter. Im Rückgriff auf etliche neuere Publikationen über die von den Wissenschaften lange ignorierten "Gefühle" plädiert er für eine kulturwissenschaftliche Emotionsforschung.

Mit Goleman vor allem befaßt sich die für literaturkritik.de überarbeitete Fassung eines Vortrags von zwei Psychologie-Professsoren. Die an der Universität Greifswald lehrende Hannelore Weber (die eine viel beachtete Habilitationsschrift über den Affekt des Ärgers vorgelegt hat) und Hans Westmeyer (FU Berlin) haben zusammen eine Kritik am Begriff und am Konzept der "emotionalen Intelligenz" formuliert. Der Beitrag ist nicht zuletzt deshalb für Kulturwissenschaftler wichtig, weil er wissenschaftliche Konzepte als soziale Konstrukte analysiert. Diese sozialkonstruktivistische Perspektive ist an kulturwissenschaftliche Perspektiven ohne Schwierigkeiten anschließbar. Golemans "emotionale Intelligenz" wird von Hannelore Weber und Hans Westmeyer denn auch in einem bestimmten US-amerikanischen Kulturmilieu lokalisiert.

Für die lange anhaltende Ignoranz der akademischen Psychologie gegenüber Emotionen hat man ihre kognitionswissenschaftliche Orientierung verantwortlich gemacht. Inzwischen befassen sich auch Kognitionspsychologen intensiv mit Gefühlen. Der "psychische Apparat", von dem Freud einst maschinenmetaphorisch schrieb, hat bei Dietrich Dörner die reale Gestalt eines informationsverarbeitenden Computers angenommen, der die Dynamik psychischer Prozesse simuliert. Dieser Apparat, so der Anspruch von Dörner, denkt nicht nur, sondern er fühlt auch. Hier geht Dörners von Oliver Pfohlmann vorgestellter "Bauplan für eine Seele" etliche Schritte weiter als Steven Pinkers "Computertheorie des Geistes" in dem von Lutz Hagestedt rezensierten Buch. Schon während der Vorarbeiten für den lange erwarteten und vor wenigen Wochen erst erschienenen "Bauplan" hatte Dörner in mehreren Publikationen und Forschungsprojekten gezeigt, wie sehr sein Konzept, das den Gefühlen der Lust und der Unlust eine zentrale handlungssteuernde Bedeutung zuweist, gegenüber Fragestellungen einer Ästhetik offen ist, die schon Kant auf eben diesen Gefühlen gegründet sah.

Daß naturwissenschaftliche oder an den Standards der Naturwissenschaften orientierte Arbeiten eine Brücke schlagen zu kulturwissenschaftlichen Fragestellungen, ist keineswegs selbstverständlich. Auf Defizite grundsätzlicher Art, die für naturwissenschaftlich orientierte und kulturwissenschaftlich ignorante Arbeiten über Gefühle durchaus symptomatisch zu sein scheinen, verweist nachdrücklich die Rezension von Christine Kanz und Rolf Löchel über eine enttäuschende Aufsatzsammlung mit dem vielversprechenden Untertitel "Sexualität im Spiegel der Wissenschaft". Zwei von Christine Kanz rezensierte Bücher über männliche Ängste vor dem Weiblichen (in der Gestalt der Lilith) und über literarisch dargestellte Leidenschaften sind dagegen Beispiele für die Ergiebigkeit einer kulturwissenschaftlichen Emotionsforschung.

Ein Essay von Lutz Hagestedt über Literatur der neunziger Jahre schließt den Themenschwerpunkt "Gefühle" ab. Der Essay verweist auf ganz unterschiedliche Gefühlsmischungen in der Gegenwartsliteratur und zeigt vor allem, wie diverse Emotionen eine literarisch fruchtbare Verbindung mit Elementen der Komik eingehen können. "Gefühl" oder "Emotion", so wird deutlich, ist eine auch von der Literaturkritik nicht zu vernachlässigende Kategorie. Gegen die artifizielle Kälte mancher junger Autoren der Gegenwart gerichtet, endet der Essay als Plädoyer für eine ästhetisch reflektierte Emotionalisierung des Lesens.

Thomas Anz