Auf den Spuren weiblicher Erotik

Erica Fischers Liebesgeschichte "Aimée und Jaguar"

Von Birgit LahhamRSS-Newsfeed neuer Artikel von Birgit Lahham

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Liebe zwischen zwei Frauen, von denen eine Jüdin ist - vor dem Hintergrund der Nazi-Zeit im Jahr 1943 ist aus zweierlei Gründen etwas Außergewöhnliches: Zum einen ist die nationalsozialistische Gesellschaft durch ein dogmatisches Männer- und Frauenbild gekennzeichnet, zum anderen erreicht die Verfolgung der Juden 1943 ihren Höhepunkt. Der Verstoß gegen die gesellschaftliche Konvention besteht darin, daß eine Nichtjüdin und eine Jüdin befreundet sind und ihrer Liebe auch körperlich Ausdruck verleihen. Das Wissen um die politischen Hintergründe und die damit verbundenen Normen und Moralvorstellungen ist notwendig, um die spezifischen Umstände der hier gelebten Erotik zu verstehen.

Lilly Wust, im Bemühen, eine gute deutsche Mutter und Ehefrau zu sein, ist durch die Faszination, die Felice Schragenheim auf sie ausübt, verwirrt und zunächst unangenehm berührt. Aufgerieben durch ihre Ehe, in deren Verlauf ihr Ehemann wiederholt fremdgeht, läßt sich Lilly jedoch auf das verlockende Neue ein, das sich zwischen ihr und Felice zu entwickeln beginnt, zumal ihr die intime Begegnung mit Männern nie das zu geben vermochte, wonach Lilly sich unbewußt und dennoch spürbar gesehnt hat.

Als es Felice gelungen ist, Lillys Freundschaft durch Briefe, Gedichte und andere Aufmerksamkeiten zu gewinnen, baut sich eine erotische Spannung auf, gegen die Lilly sich immer weniger auflehnt. Anfangs manifestiert sich Erotik hauptsächlich durch Blicke, gegenseitiges fasziniertes Betrachten und vielsagendes Lächeln. Aber auch der Duft, den Felice verströmt, oder die Art, wie sie etwas sagt, sind für Lilly plötzlich bedeutsam:

"Elisabeth Wust fühlt sich in einen magischen Kreis hineingezogen und spürt, wie sich alle ihre Sinne wie aus einem Tiefschlaf erwacht zu ungewöhnlicher Schärfe aufrichten."

Die Initiative zur ersten körperlichen Begegnung geht von der in lesbischer Liebe erfahrenen Felice aus. Lilly ist schockiert, als Felice sie beim Spülen ungestüm an sich reißt. In der Folgezeit weicht sie erotischen Momenten und dem Austausch verfänglicher Blicke aus. Für Felice liegt die Anziehungskraft der angepaßten Nazifrau Lilly in ihrer scheuen, sich zierenden Art, die sie gleichzeitig amüsiert und anrührt. Felice spielt mit der Befangenheit Lillys, wenn sie in einem ihrer Briefe schreibt, "daß ich heute gegen Morgen wunderhübsch von Ihnen geträumt habe." Allmählich gelingt es auch Lilly, ihre Empfindungen für Felice zuzulassen. Geschwächt durch Krankheit sucht sie Schutz bei Felice und läßt sich auch körperliche Nähe gefallen. In Gedichten gesteht sie Felice ihre Liebe.

Die erotische Beziehung wird von Anfang an mit Liebe und Glück identifiziert: "Als Felice sich über die Kranke beugt und ihr Haar deren Wangen streift, werden Lillys Knie zu Wasser, und heiß schießt es ihr direkt an diese Stelle, wo sich die Herrenbesuche vergeblich abgemüht haben. [...] Das Rasen in Kopf und Körper macht ein Getöse wie herabstürzende Steinmassen. Um nicht erschlagen zu werden, schließt Lilly die Augen und überläßt sich Felices weichen Lippen."

An dieser Stelle wird deutlich, daß die Erotik der beiden Frauen mit einem tieferen Gefühl verbunden ist.

Ein Höhepunkt ist die erste geschlechtliche Vereinigung der beiden Frauen: "Lilly stockt der Atem. Mit einem matten Versuch, es doch noch zu verhindern, hält sie Felices Hand fest, die sich den Weg unter ihr Nachthemd bahnt. [...] Ohne den kleinen Ekel, den sie bei den Männern stets erst überwinden mußte, die Angst vor dem prallen Glied, das autoritär und bedrohlich auf rasche Entladung pocht, fallen ihre Hemmungen ab. [...] Noch nie in ihrem Leben hat sich Lilly so schamlos gefühlt. Und wie gut das tut! Alles alles alles will sie machen, lernen, nachholen."

Im Unterschied zu ihren heterosexuellen Erfahrungen ist die lesbische Liebe für Lilly mit Vertrauen, Angstfreiheit und Absenz von Ekel verknüpft. Befriedigung tritt an die Stelle von Schuld und Scham. Liebesbriefe und Gedichte bilden das geistige Korrelat der körperlichen Liebe. Weil sie ihre Beziehung vor der Öffentlichkeit geheimhalten müssen, schaffen sie sich Freiräume, in denen sie sich körperlich nah sein können. In den kurzen Phasen ihrer Trennung, wenn Felice untertauchen muß, besteht das erotische Moment im Erzählen von entsprechenden Träumen. Nach der Deportation von Felice rückt der schmerzliche Aspekt von Liebe in der Vordergrund. Aus den Briefen, die sie sich anfangs noch schreiben dürfen, gehen sowohl Sehnsucht und Hoffnung auf ein Wiedersehen als auch Felices Todesangst hervor. Liebe und Erotik sind auf Freiheit angewiesen.

Bereits am Tage der Deportation beginnt Lilly, Tagebuch zu führen. Hier kann sie in Gedanken mit Felice, die sie persönlich anspricht, kommunizieren und ihren Hoffnungen, Sehnsüchten und Ängsten eine Stimme geben: "Mein Tagebuch ist ein einziger Liebesbrief für Dich." Nun sind es allein die Worte, über die die Frauen versuchen, die Verbindung aufrechtzuerhalten; sie versuchen durch zärtliche Worte die Gefühle für einander lebendig zu halten. Trotz ähnlicher Gefühle unterscheiden sich die Briefe voneinander und verraten die Rollenverteilung innerhalb der Beziehung: "Ihre von Lilly gewünschte Rolle der Beschützerin eines zerbrechlichen Wesens nimmt Jaguar an, wenngleich sie, der man alles, einschließlich der eigenen Identität, geraubt hat, selbst eine sorgende Mutti gebraucht hätte." Der starke, wehrhafte und mutige Panther steht für Felice; er soll Lilly, die "geliebte Aimée", beschützen. Diese beiden Namen, die auch als Decknamen fungieren, sind nicht nur Ausdruck der gelebten Erotik, sondern zugleich Programm, in dessen Rahmen die Erotik stattfindet. Letzlich ist die Beziehung durch ein sehr konventionelles Rollenverständnis geprägt, in dem Jaguar die männlichen Verhaltensweisen repräsentiert und Aimée das klassisch weibliche Verhalten verkörpert. Schon zu Beginn der Beziehung ist es Felice, die die Initiative ergreift. In ihrem "Ehevertrag" übernimmt Felice versorgende Funktionen, während Lilly verspricht, "fleißig für Ordnung und Sauberkeit" zu sorgen.

Es fällt jedoch auf, daß sich die beiden Frauenfiguren durch ihre gemeinsame sexuelle Erfahrung von dem klassischen Beziehungsbild entfernen können. Läßt sich Aimée zu Anfang noch sehr von Jaguar leiten, so verspürt sie bald auch Lust, Jaguar sexuell zu befriedigen. Weigert sich Jaguar zunächst noch, sich Aimées Initiative hinzugeben, gelingt es ihr sehr schnell, die schützende Kontrollposition zu verlassen. Nach Felices Deportation weigert sich Aimée, die Realität der Trennung anzuerkennen. Jaguars Erinnerungen an ihre Freundin müssen vor dem grausamen, persönlichen Schicksal verblassen, wenngleich sie ihr die Kraft zum Durchhalten geben. Die erinnerte Erotik erfüllt für beide einen unterschiedlichen Zweck.

Das von Erica Fischer leistet einen Beitrag, dem Entdecken und Benennen des Eigenen Raum zu geben. Die Autorin thematisiert den Versuch von Frauen, ihre Sexualität aus tradierten Schranken zu befreien. Durch den formalen Aufbau des Buches, das aus Elementen autobiographischen Schreibens, Aussagen von Zeitzeugen, Erklärungen zu politischem Hintergrund und privater Dokumente besteht, gewährt der Text Einblick in Formen tabuisierter Liebe unter dem Druck der Verfolgung und des Todes. Die Entwicklung der Emanzipation wird gezeigt; und daß Frauen jeder Zeit, allen Umständen zum Trotz, auf der Suche nach dem Eigenen sind und waren.

Titelbild

Erica Fischer: Aimee und Jaguar. Eine Frauenliebe, Berlin 1943.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994.
295 Seiten, 13,30 EUR.
ISBN-10: 3462023357

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