Lesen mit Nabokov

Anläßlich des 100. Geburtstages von Wladimir Nabokov

Von Mareile AhrndtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mareile Ahrndt

Sein Leben ist, neben dem eines Dichters, auch das Leben eines Lesers. Vladimir Nabokov, geboren in Sankt Petersburg am 22. April 1899, kann schon mit sechs Jahren Englisch lesen und schreiben. In seiner wohlhabenden Familie wird den fünf Kindern Bildung und Liebe zur Literatur in die Wiege gelegt. Vladimir, der älteste, verschlingt Bücher: "Zwischen zehn und fünfzehn habe ich in St. Petersburg bestimmt mehr Romane und Gedichte gelesen - englische, russische und französische - als in irgendeiner anderen Fünfjahresspanne meines Lebens."

Als die Familie 1917, nach der Oktoberrevolution, nach England flieht, hat Nabokov die russische Literatur in sich aufgesogen. "Die toten Seelen" von Nikolaj Gogol ist für ihn ein Roman, in dem jeder Halbsatz, jeder Nebensatz von Leben erfüllt ist. Randgestalten und Kleinigkeiten bekommen bei Gogol dieselbe Kraft, wie sie die Haupthandlung hat. Das Bindeglied, das diese Palette an Personen gleichzusetzen vermag, ist die Ironie - darin ist Gogol der große Lehrmeister Nabokovs. Gogols Einfluß trägt sich auch in die englischen Nabokov-Romane und macht gleich den ersten von ihnen (nach zehn russischen Romanen) so leserfreundlich: "Das wahre Leben des Sebastian Knight". Das Buch, das Nabokov 1939 beendet, erzählt von einem recht unbekannten Schriftsteller, der seine Existenz vergeblich im Schatten seines überragenden Genius zu ordnen versucht. Botschaften will Nabokov nicht verkünden, gesellschaftlich-erzieherische Aufgaben nicht übernehmen.

Obwohl Nabokov ein Buch über Gogol verfaßt hat, beschäftigt ihn doch ein anderer russischer Schriftsteller weit mehr: Alexander Puschkin. Puschkin hat mit "Eugen Onegin" einen Roman in Versform gedichtet, an dessen Übersetzung ins Englische Nabokov länger arbeitet als an jedem seiner eigenen Werke. Nabokov, den vielsprachigen, reizt die literarische Übersetzung. Dort sieht er die schlimmsten Stümper am Werke, und aus Angst vor ihnen überträgt er seinen berühmtesten Roman, "Lolita", selber vom Englischen ins Russische - der Tatsache zum Trotz, daß damals, in den sechziger Jahren, nicht an eine russische Leserschaft zu denken ist. Daß er sich damit in den Kanon der russischen Literatur bringt, bedeutet heute viel; die sowjetische Literaturwissenschaft hat ihn erst totgeschwiegen und dann als 'amerikanischen Schriftsteller' abgetan. Seit Beginn der neunziger Jahre wird er mit Interesse gelesen.

Nabokov selber dürfte in diesen Kanon gar nicht so gern aufgenommen werden wollen, weil Fjodor Dostojewskij dazu gehört. Dessen dicke Wälzer sind für Nabokov Schund, nicht besser als "Verdammt in alle Ewigkeit". Dostojewskij ist "kein bedeutender Autor, sondern eher mittelmäßig mit dem gelegentlichen Aufblitzen brillanten Humors, aber, ach!, mit Wüsteneien literarischer Plattheiten dazwischen." Nabokov nerven diese eigentlich grundguten Mörder und Huren, mit denen Dostojewskijs Bücher, allen voran "Schuld und Sühne", vollgestopft sind. Nabokovs Antipathie gegenüber Dostojewskij läßt sich auch in seinen Büchern herauslesen: Durchschnittliche oder gar unterdurchschnittliche Menschen schildert Nabokov nicht. "Das Bastardzeichen" von 1947 ebenso wie "Pnin" von 1957 thematisieren herausragende Persönlichkeiten von besonderem Talent, die damit kämpfen, es richtig einzusetzen.

Am Trinity College in Cambridge studiert Nabokov von 1919 bis 1921 russische Literatur - wenn er auch, wie er betont, kein einziges Mal die Universitätsbibliothek betritt. Sein zweites Fach ist französische Literatur - Französisch hat er mit fünf Jahren zu lernen begonnen. "Madame Bovary" von Gustave Flaubert ist Nabokovs Leib- und Magenbuch. Nabokov lobt den stimmigen, mit Filigranarbeit erzeugten Ton, um den auch er sich müht. Der Genuß an der Komposition verleiht einem Roman wie "Lolita" von 1958 mit seinem umstrittenen Inhalt, der Geschichte des pädophilen Humbert Humbert, den hohen literarischen Wert, an dem sich moralistische Debatten die Zähne ausbeißen. Was Flaubert stilistisch für Nabokov ist, stellt Marcel Proust in viel größerem Maße bezüglich der Anschauung vom Kunstschaffen für Nabokov dar: "Proust ist ein Prisma, dessen einziges Ziel darin besteht, das Geschehene optisch zu brechen und damit im Blick zurück eine Welt wiederzuerschaffen, die, wie auch die Menschen darin, von keiner gesellschaftlichen oder geschichtlichen Bedeutung sind." Die 4000 Seiten von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" inhaliert der geübte Leser Nabokov. Auch er wagt es, in jedem seiner Bücher eine eigene Welt zu formen nach seinen, nur seinen Vorstellungen.

Frankophil ist Nabokov deswegen noch lange nicht; er lehnt ohnehin Einteilungen nach Nationalliteraturen ab. "Hochgejubelt" und "zweitklassig" findet Nabokov die zeitgenössischen französischen Autoren Albert Camus, "den schrecklichen", und Jean-Paul Sartre, "den noch schrecklicheren". Dessen Romane wirkten zunächst angespannt, dann aber verflüchtige sich jeglicher Anspruch in locker dahingeworfene Populärliteratur.

Sein Leben führt Nabokov in mehrere Länder. 1921 ist es Deutschland, ist es Berlin, in das er zieht. Sechzehn Jahre wird er dort bleiben. Er veröffentlicht seine ersten Romane, auf Russisch. Obwohl er sogar eine Erzählung "Stadtführer Berlin" nennt, vermag er sich nicht recht zu begeistern für das Land und seine Kultur. Schon Goethe legt die Wurzeln für Nabokovs Zurückhaltung gegenüber der deutschen Literatur. Alle Neigungen, die jener Dichterfürst in seinen Werken offenbarte, seien die eines Spießers, eines kleinkarierten Biedermannes. Genauso elend zumute wird Nabokov bei der Lektüre Thomas Manns. "Der Tod in Venedig" ist eine "Eselei", so überschätzt wie medioker. Der gute, der wahre Leser solle sich aus dem Reigen der deutschsprachigen Schriftsteller dem Olymp, nämlich Franz Kafka, widmen. Klarer Stil, reiche Phantasie - keiner könne das so vollkommen miteinander verweben wie Kafka.

Nachdem er 1940 nach drei Frankreich-Jahren in die USA geflüchtet ist (Nabokovs Frau ist russische Jüdin), erhält er eine Anstellung als Universitätsdozent. Mit amerikanischen Schriftstellern wird er indes nie warm. William Faulkner bedeute ihm nichts, D.H. Lawrence und Somerset Maugham seien besonders niederschmetternde Beispiele für Schreiberlinge von "aus dem Handgelenk geschüttelten Platitütden." Nabokov diffamiert in seiner Zeit in den USA wie er will und wen er will. Jemand, der aus dem scheinbar Vorgezeichneten geworfen wurde wie Nabokov aus seiner russischen Kindheit, glaubt nicht an höhere Autoritäten - schon gar nicht, wenn es sich um amerikanische Nationalgefühle handeln sollte.

Aber auch in den Kreisen der Emigranten, die sich gegenseitig lesen und beklatschen, verkehrt Nabokov nicht. Sein Urteil erlegt sich keine Hemmungen auf, auch wenn alle anderer Meinung sind. Seine Gnadenlosigkeit gegenüber "Doktor Schiwago" von Boris Pasternak handelt ihm bittere Feinde ein. Er erkennt in ihm einen Unterhaltungsroman, der mit seiner "übelkeiterregend süßlichen Sorte Christentum" genau in den Mief der Sowjetunion passe. Noch dazu liefere er den Zensoren das, was sie nur bestätige: Wer nicht sozialistisch-realistisch schreibt, schreibt gefühlsduselerisch-bourgeois. "Den politischen Gesichtspunkt beiseite lassend, sehe ich in dem Buch eine jämmerliche Angelegenheit, unbeholfen, trivial und melodramatisch, mit stereotypen Situationen, geilen Anwälten, unglaubhaften Frauen und abgedroschenen Zufällen." Nach dieser Lesart hätte "Doktor Schiwago" der Gattung Roman durch die Diskreditierung bei ernstzunehmenden Köpfen beinahe den Todesstoß versetzt. Kurz darauf verfaßt Nabokov "Fahles Feuer" (1962), ein Buch, das als die Reanimierung des modernen Romans gefeiert wird. Es kreist um die wissenschaftliche Edition eines Gedichtes - und wird durch deren Parodie zum Roman.

Nabokov selbst arbeitet nicht mehr an der Universität; durch den "Lolita"-Erfolg finanziell unabhängig geworden, siedelt er 1960 nach Europa um. Im Palace Hotel im schweizerischen Montreux bezieht er für die folgenden sechzehn Jahre eine Dachsuite. Mehr Verwurzelung benötigt er nicht. Frau und Sohn sind die eine Konstante, die er aus den zwanzig Jahren USA mitgenommen hat; keine engsten Freunde, keine literarischen Zirkel. Die andere ist seine Leidenschaft für Schmetterlinge. Mit ihnen beschäftigt er sich, fängt und bestimmt sie (siebundzwanzig Schmetterlingsarten tragen seinen Namen), schreibt wissenschaftliche Aufsätze. Wie seine Beiträge zur Schmetterlingsforschung hat seine Prosa zwei herausstechende Eigenschaften: Strenge in der Sprache, Detailbesessenheit im Inhalt. Die findet sich bei ihm wie bei James Joyce, dessen "Ulysses" Nabokov für glänzend geschrieben und für ein Werk von Dauer hält, zu dem er in seinem Leben häufiger greift.

Mehrmals lesen: Dieser Maxime will Nabokov auch seine Leser unterwerfen, und am allerbesten gelingt ihm das bei "Ada oder Das Verlangen". 1969, acht Jahre vor seinem Tod infolge einer Bronchialinfektion am 2. Juli 1977, erscheint dieses 600-Seiten-Buch, in dem der über neunzigjährige Van Veen seine Erinnerungen erzählt, seine Erinnerungen an Ada, die er einst - inzestuös - geliebt hatte. Noch einmal nach "Lolita" erschüttert Nabokov die Gefühle des Publikums, das er mit der ganzen Macht seiner Erzählkraft in ein anderes, vorher fremdes Weltbild befördert. Hinter "Ada" verschwindet der Exzentriker Nabokov völlig. Derjenige, der den Roman geschrieben hat, spielt keine Rolle mehr. So rückt "Ada" neben die großen Bücher der Weltliteratur. Welche auch immer das sein mögen.

Die Werke von Vladimir Nabokov liegen auf deutsch im Rowohlt-Verlag vor. Für echte Nabokovianer gibt es aus den USA eine wissenschaftliche Zeitschrift, "The Nabokovian", und ein Diskussionsforum im Internet (www. libraries.psu.edu/iasweb/nabokov/listinfo.htm). Bemerkenswert ist, daß seit kurzem auch in Rußland, wo Nabokov erst nach 1989 gelesen werden durfte, eine wissenschaftliche Reihe, "Nabokovskij vestnik" (Nabokov-Bote), herauskommt.