Leben Sie auch so?

Angelika Klüssendorfs Erzählungen erweisen sich als Roman

Von Christina LangnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Langner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass es sich bei Angelika Klüssendorfs Roman "Alle leben so" um einen Roman handelt, will anfangs nicht ganz einleuchten. Tut sich doch zunächst keine Verbindung zwischen den einzelnen Kapiteln auf. Selbst die wunderbaren, einem erst einmal undurchsichtig erscheinenden Titelgebungen - "Der Mond ist unten, und du bist oben" oder "Für jeden kommt einmal der Hund" - lassen eher Erzählungen vermuten als eine sich zusammenfügende Handlung.

Jedes einzelne Kapitel kann durchaus für sich als abgeschlossene Geschichte stehen. Doch im Verlauf tun sich interessante Verbindungen auf. Der, über den gerade gesprochen wurde, wandelt sich in nachstehender Passage zum Erzähler. Den Eindruck, den der vorherige Protagonist von ihm hatte, wird erweitert um die Meinungen und Ansichten, die er über sich selbst und seine Mitmenschen hegt. Einer dieser Mitmenschen wird dann im Folgenden zum Ich-Erzähler. So verwebt die im Jahre 1958 geborene Autorin ihre Erzählungen und lässt ganz wundersam einen Roman entstehen. Gleichwohl bleibt dieser doch irgendwie anders.

Armselige Gestalten, die ihre "nie gelebten Träume beweinen", das sind die Figuren, die Angelika Klüssendorf hier aufeinandertreffen oder auch nur voneinander erzählen lässt. Da ist dieser Gerichtsvollzieher, ein seltsamer Charakter, der in seinen Beruf irgendwie reingeschliddert ist und eigentlich lieber Lebenskünstler geworden wäre. Doch seine Neigung zu übersichtlich gestalteten Tagen, "geteilt in Termine, Pausen und nochmals Termine", steht diesem Traum entgegen. Tagtäglich tut er also seinen Dienst in Häusern, in denen es "nach gescheiterten Ehen, Tobsuchtsanfällen und Sozialhilfeanträgen" nur so stinkt und steht bei Schuldnern vor der Tür, die das Sammeln von Regenschirmen und Kaffeesahnekännchen zu ihrer Passion haben werden lassen.

Einer dieser Schuldner ist der Schriftsteller, "eine dreißigjährige Leiche", auf deren Gesicht "der von der Welt betrogene Blick" liegt, die sein Talent nicht anerkennt. Im Moment des Verliebtseins - die ihm zugleich als Begründung seiner Schreibblockade dient - lernen der Gerichtsvollzieher und wir ihn kennen. Dieser "magersüchtige Vegetarier" begehrt ausgerechnet eine Fleischverkäuferin. So kauft er bei Vera regelmäßig Wurstwaren ein, die er dann an herumstreunende Hunde verfüttert. Erfolgreich immerhin: Die vermeintliche Liebe findet Erwiderung, erlebt einen kurzen, heftigen Höhepunkt, bevor sie alsbald im Alltag verpufft.

Auch Heiratsschwindler Joseph kommt zu Wort. In seinem "Beruf" taugt er allerdings herzlich wenig. Zur Heirat kommt es nie, sein Gefühle für die vermeintlichen Opfer erweisen sich erstaunlicherweise - und dies nicht nur für den Leser, sondern auch für ihn selbst - als wahrhaftig. Der Möchtegerntäter steht am Ende als Opfer dar. Alsdann begegnen wir dieser alkoholabhängigen Frau, die einen Flachmann nah am Herzen trägt: Ersatz für den fehlenden Partner an ihrer Seite. Der alternde Herr, der auch noch Himmel heisst, begehrt viel zu junge Mädchen, "höchstens zwölf und ohne Brüste, am besten bevor sie menstruieren", und das Mädchen im knallgelben T-Shirt soll sich als reife Frau erweisen, die ihre Jugendlichkeit durch ein Facelifting versucht zurückzugewinnen. An ihre gespielte Lebensfreude scheint allein sie selbst zu glauben. Nur hin und wieder brechen die wahren Gefühle durch und drohen die Fassade niederzureißen.

Mit "Alle leben so" hat Angelika Klüssendorf einen intelligenten, außergewöhnlichen, die klassischen Regeln ignorierenden, Roman geschaffen. Die Abweichung von gewohnten Strukturen - auffallend hier vor allem das sich diskret verlaufene Ende und der Verzicht auf ein Klimax - steht der Handlung gut zu Gesicht.

Das Buch setzt sich aus kunstfertig verschachtelten Momentaufnahmen zusammen, beschreibt Situationen, in denen "die Seele ein paar Gramm mehr als sonst" wiegt. Eine Figur macht die paradoxe, weil sehnsuchtsvolle Feststellung, dass es ein Alter gibt, "wo die Sehnsucht abhaut. Husch, einfach so, wie ein Freund, der einen satt hat".

Um "Sehnsüchte" ging es bereits in Klüssendorfs glänzend besprochenem Debüt, für das sie ein Stipendium des Deutschen Literaturfonds erhalten hatte. Schon in dieser Erzählung schildert die in Berlin lebende Autorin die Geschichte eines Menschen, dem über seinen "Sehnsuchtsanfällen" das Leben aus dem Ruder zu Laufen droht.

Ähnlich geht es den Figuren im Roman, denen der Alltag an den Nerven zerrt. Die Autorin fängt die Stimmung der deutschen Sonntage ein, "leere, stille Straßen, das Klappern der Töpfe in den Häusern, Essensgerüche, die Langeweile der Kinder. Eine endlos klappernde Öde", aus der man sich auszubrechen wünscht. Die eigene Trägheit, das Zurückschrecken vor Unannehmlichkeiten: So manches Mal wird sich der Leser in der eigenen Lethargie ertappt fühlen, denn dass die Autorin "lediglich" aus der Realität schöpft, wenn sie diese alltäglichen Schicksale schildert, ist unüberlesbar: "Das Leben ist so". Oder?

Titelbild

Angelika Klüssendorf: Alle leben so. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
192 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3100382013

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