Tempus hat nichts mit Zeit zu tun
Harald Weinrichs Klassiker wird besichtigt
Von Lutz Hagestedt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn Rainald Goetz' Roman "Abfall für alle" (2000) heißt es unter dem Datum des 23. Juli 1998: "Telefon mit Frau Hoven in München. Word. Rave. Tempus. Besprochene und erzählte Welt." Ein Telefonat also über die 1994 produzierte CD "Word", die 1998 erschienene Erzählung "Rave" und das Gründungsdokument der Textlinguistik, Harald Weinrichs für die Literaturwissenschaft wie für die Linguistik so unerhört folgenreiche Studie aus dem Jahre 1964. Ein Buch, das 1971 grundlegend überarbeitet wurde und bis heute nichts von seiner ursprünglichen Frische verloren hat, auf angenehm entspannte Weise gelehrt ist und lehrreich, stilistisch gewandt, ja meisterlich geschrieben, dabei rasch und überzeugend zu Ergebnissen kommend. Eine Offenbarung, ein Glücksfall der Wissenschaft. "Tempus. Besprochene und erzählte Welt" ist ein Augenöffner für jeden, der mit Texten zu tun hat, sei er Autor, Lektor, Redakteur oder einfach nur Leser. Wer es liest, wird zukünftig bewusster lesen.
Schon die heuristische Grundannahme überrascht. Sie lautet schlicht und einfach: "Tempus hat nichts mit Zeit zu tun." Das Präteritum nichts mit Vergangenheit, das Präsens nichts mit Gegenwart, Futur nichts mit Zukunft. Die grammatischen Tempora beziehen sich weder auf die natürliche Zeit noch auf die fiktionale Zeit in literarischen Texten. Worauf also dann?
Der Begriff "Tempus", so Weinrich, gehörte zu den vielen irreführenden "terminologischen Täuschungen" oder Idola fori der Wissenschaft. Entfernt wohl vergleichbar mit dem Genus-Begriff, denn das natürliche und das grammatische Geschlecht haben auch nichts gemein (die Frau, das Mädchen), oder mit irreführenden Epochenbegriffen wie Romantik oder Realismus. Um die Funktion der Tempusformen zu erweisen, untersucht Weinrich hochrangige Texte aus verschiedenen Epochen, Gattungen und Sprachräumen: Gebrauchstexte wie einen Brief Schillers an Goethe (von 1800), Thomas Manns Essay "Goethes Laufbahn als Schriftsteller" (1935), einige Abschnitte aus Maupassants Novellen "Le Testament" und "L'Horrible", die Memoiren von Charles de Gaulle und Geschichtsdarstellungen Golo Manns, den historischen Briefroman "The Ides of March" (1948) von Thornton Wilder und Pirandellos "Novellistik". Gerade Übergangsformen sind für die Tempusfunktion aufschlussreich - neben dem Essay und dem Brief werden auch der Briefroman, das Tagebuch, die Novelle, das Prosagedicht, der Lexikon- oder der Zeitungsartikel thematisiert. Und die Weltsprachen, die dem Romanisten Weinrich zur Verfügung stehen, sind illuster vertreten durch Namen wie Camus, Flaubert, Hemingway, Kafka, Ortega y Gasset und Proust.
Die erste Äuffälligkeit betrifft die hohe Frequenz und Rekurrenz der Tempusformen: Im Schnitt enthält jede Zeile der dargestellten Texte eine Tempusform. Und weil sie - scheinbar ohne Not - so häufig vorkommen, zählt Weinrich sie zu den "obstinaten Zeichen". Das unterscheidet sie von den makrosyntaktischen Signalen, sprich Zeitangaben wie Datierungen oder Zeitadverbien, die in der Regel nicht wiederholt werden müssen, weil sie bis auf Wiederruf gelten: "Weimar, 5. September 1800" gilt für den ganzen Schiller-Brief. Die zweite Auffälligkeit betrifft die unterschiedliche Verteilungsdichte der Tempora in den verschiedenen Textsorten. Die Auszählung des Goethe-Essays von Thomas Mann ergibt wahre "Tempus-Nester", deren Leit-Tempora (es sind hier entweder das Präsens oder das Präteritum) mit erstaunlicher Stereotypie auftreten.
Es ist unerhört aufregend, was Weinrich aus dieser einfachen Auszählung der Tempusformen macht: Er formuliert die Hypothese, dass die Tempora der deutschen Sprache in zwei Tempus-Gruppen unterschieden werden können und für verspiedene Sprechhaltungen stehen: für das "gespannte" und das "entspannte" Reden. Beide Redeformen sind nicht bloß von linguistischer Relevanz, sondern stiften auch "inhaltlich" Konsistenz. Für diese Rezension beispielsweise ist ein "gespanntes Reden" charakteristisch, deshalb überwiegt in ihr die Tempusgruppe I, zu der im Deutschen Tempora wie Präsens, Perfekt, Futur und Futur II gehören. Weinrich nennt sie die "Tempora der besprochenen Welt", und nicht von ungefähr werden Rezensionen ja auch "Besprechungen" genannt. Würde sich der Rezensent Gewalt antun, so könnte er seine Rezension - freilich ungewöhnlich - auch als Erzählung anlegen. Dann müsste er die Tempusgruppe II bevorzugen, zu der das Präteritum, Plusquamperfekt, Konditional und Konditional II gehören. In den "Tempora der erzählten Welt" gehalten, bekäme der Text einen entspannteren Gestus: Es war einmal. Nämlich ein Mann der Sprache, der die Welt mit anderen Augen sah. Er war 1927 in Wismar geboren und früh auf einen Lehrstuhl berufen worden. Schon früh haderte er mit den Ergebnissen der Linguistik, denn ihm war aufgefallen, dass sich die grammatischen Tempora nur sehr holperig auf den Dreischritt Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft applizieren ließen. Da fasste er einen beherzten Entschluss: er würde der Welt beweisen, dass die Tempusformen ihrer Sprachen anders funktionierten.
Die letzte Tempusform, das Präteritum "funktionierten", zeigt übrigens, dass damit keine Aussage über etwas in der Vergangenheit Abgeschlossenes getroffen wird, denn was Weinrich zeigen wollte, gezeigt hat und immer noch zeigt, gilt bis in die Gegenwart hinein und wird auch zukünftig für die Tempusformen gelten: sie funktionieren anders und lassen sich nicht aus ihrem zufälligen Namen heraus erklären. Und weil sich das besser in der Tempus-Gruppe I erörtern lässt, wählt man - ganz automatisch und ohne lange darüber nachzudenken - die Tempora der besprochenen Welt. Weinrich demonstriert das beispielsweise am Passé composé des französischen Tempussystems, das dem deutschen Perfekt und dem englischen Perfect entspricht, und das für den Beginn von Sartres Buch "L'être et le néant" (1943) ebenso prägend ist wie für Paul Valérys "La Soirée avec Monsieur Teste" (1896). Sartres erster Satz lautet "La pensée moderne a réalisé un progrès considérable en réduisant l'existant à la série des apparitions qui le menifestent" ["Dem Denken der Gegenwart ist ein beträchtlicher Schritt nach vorwärts gelungen, indem es das Seiende auf die Reihe derjenigen Erscheinungen zurückführte, die von ihm Kunde geben."] und lässt prima facie nicht erkennen, ob wir es mit einem wissenschaftlichen oder literarischen Werk zu tun haben. Valérys Text beginnt mit dem schönen Satz "La bêtise n'est pas mon fort" ("Dummheit ist nicht meine Stärke") und steht am Anfang eines Rechenschaftsberichtes. Rechenschaft geben aber ist ein Besprechen und fordert unsere Aufmerksamkeit in besonderem Maße. Auch Aussage, Verhör und Plädoyer gehören zu jenen Situationen, die in den Tempora der besprochenen Welt 'erzählt' werden: Kafkas Roman "Der Prozess" belegt dies ebenso wie Maupassants Novelle "Un Parricide" oder Wilders bereits erwähnter Briefroman.
Zentral ist für Weinrichs Tempus-Theorie die Beobachtung der Tempus-Übergänge, etwa bei Novellen, die eine Rahmen-Binnen-Struktur aufweisen. Hier geht die sprachwissenschaftliche Analyse zur literarischen Interpretation über und greift zugleich weit über sie hinaus. Die Rahmenhandlung der älteren Novellistik, so zeigt Weinrich, enthält oft eine Exposition mit einer Art Moral oder Bewertung der Binnenerzählung, sowie den Versuch, diese Struktur an die aktuelle Kommunikationssituation anzubinden. Die relativ starre Rahmen-Binnen-Struktur verliert nun im 19. Jahrhundert allmählich an Bedeutung und wird durch eine flexiblere, auch unauffälligere Erzähltechnik abgelöst, die - bei Wegfall der Rahmenhandlung - zu einer stärkeren Reliefbildung innerhalb der Erzählung führt. Mit dieser Umstellung der Rahmentechnik auf die Hintergrundtechnik erfolgt zeitgleich eine Umorientierung von der Moral auf die Soziologie und eine Funktionsverschiebung der Tempora im Tempussystem. Dieser Dreischritt von der Textlinguistik zur Gattungstheorie und Soziologie wird von Harald Weinrich ebenso kühn wie elegant vollzogen. Man liest sein Buch mit Gewinn, selbst als Laie, und für die nun vorgelegte Neubearbeitung gilt dies in besonderem Maße.