Elvis als Metapher
Greil Marcus untersucht das Nachleben vergangener Bedeutungssysteme in Amerika
Von Hans von Seggern
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUnter dem Titel "Mythologies" ("Mythen des Alltags") erschien 1957 eine Sammlung Essays von Roland Barthes. Der Literaturwissenschaftler und Zeichentheoretiker schrieb an gegen die Macht des Scheins einer "Natürlichkeit", mit der das Gemachte, unsere historisch gewordene Wirklichkeit, unablässig von Presse und Kunst ausgestattet wurde und wird. Der Gottesdienst als Daily Soap von und mit Billy Graham, der neue Citroën als "magisches Objekt" unbekannter Künstler, vergleichbar mit dem kultischen Zeichensystem der großen gotischen Kathedralen: Schon in den späten 50er Jahren untersuchte die Semiologie die Metamorphosen historischer Zeichensysteme im Gegenwarts-Pop.
Nach dem Reissue des Greil-Marcus-,Longplayers' "Mystery Train" (nach wie vor eines der intelligentesten Versuche über Rockmusik) featured der Ullstein Verlag für Marcus-Fans mit der Taschenbuchversion von "Der Mülleimer der Geschichte" jetzt eine Art Marcus-Singles-Collection. Und Singles haben bekanntlich A- und B-Seiten. Zu den A-Seiten aus zwei Jahrzehnten kulturhistorischer Kommentare in "The Village Voice", "Rolling Stone" und der "Los Angeles Times" gehören die Texte über amerikanische Nazi-Thriller der siebziger Jahre, die Bewegung der Beatniks oder die vulgär-nietzscheanisch mäandernde Kulturtheorie der Camille Paglia.
Leo Trotzkis Bannfluch an die Adresse der Menschewiki dient dem bedeutendsten amerikanischen Pop-Historiker als Motto: "Ihr seid elende, isolierte Leute. Ihr seid bankrott. Ihr habt eure Rolle ausgespielt: Für euresgleichen gibt es fortan nur noch einen Platz: den Kehrichthaufen der Geschichte!" Die enormen politischen Umbrüche und technologischen Modernisierungsschübe im 20. Jahrhundert ließen das jeweils Jüngstvergangene schnell alt aussehen. In diesem Rahmen ist die Rede vom vermeintlichen "Mülleimer der Geschichte" einfach eine populistische Phrase, mit der man Politik zu machen versucht. Doch wie abgetan ist das Gestern wirklich? Was hat Elvis im US-Wahlkampf verloren? Welche Rolle spielen tragische Western-Helden für den amerikanischen Alltag? Mit seinen zweitverwerteten Artikeln aus dem Zeitraum 1975-1996 spürt Greil Marcus der Bedeutung von Popkultur in der politischen Geschichte nach und arbeitet an einem Verständnis des in unseren politischen und kulturellen Diskursen virulenten historischen Metaphernpotentials.
Gegen die postmoderne Aufweichung der Trennung zwischen Faktum und Fiktion wandte sich 1993 der britische Sozialhistoriker Eric Hobsbawm und verwies mit einem Beispiel auf "unbezweifelbare Fakten": "Elvis Presley ist entweder tot oder nicht." In einem zuerst in der New York Times erschienenen Artikel über "Bill Clinton als Elvis Presley" spielt Marcus diese Frage anhand des amerikanischen Präsidentschafts-Wahlkampfs von 1992 durch. In der Tat spielte hier die Elvis-Metapher eine nicht unerhebliche Rolle. So benutzte George Bush den Vergleich mit dem Beckenwunder, um seinem Kontrahenten mangelnde politische Substanz zu unterstellen: "Ich denke, sein Wirtschaftsprogramm wird auf eine ,Elvis-Ökonomie' hinauslaufen. Und dann kann sich Amerika ein Zimmer im ,Heartbreak Hotel' nehmen." Kurz vor seiner Wahl zum 42. Präsidenten der USA drehte der Demokrat den Spieß um: "Bush vergleicht mich ständig auf eine wenig schmeichelhafte Weise mit Elvis. Ich glaube, daß Bush Elvis nie sonderlich gemocht hat - und das ist ein weiterer Punkt, der gegen Bush spricht." Sprachs und blies die Melodie von "Heartbreak Hotel" vor den laufenden Kameras in sein Saxophon. Wie tot ist Elvis nun also? Weniger, als man meinen mag. Marcus zeigt: Wer in den USA Präsident werden will, braucht den Segen des King.
Unvermeidlich landeten die Zeitschriften, in denen Marcus' Artikel zuerst erschienen, eines Tages im Papierkorb. Insofern ist der Titel auch wortwörtlich zu nehmen: Die Neuausgabe rettet Greil Marcus' Mythen des amerikanischen Alltags vor dem "Mülleimer der Geschichte".