Spielräume des Unernstes

Protoliteraturforschung, Kryptozoologie, Pataphysik, Ochlokinetik und andere "fröhliche Wissenschaften"

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt, behauptet Adorno in den "Minima Moralia", einen amor intellectualis "zum Küchenpersonal", die Versuchung für den akademisch und künstlerisch Arbeitenden, den intellektuellen Anspruch an sich zu lockern. Die Erklärung: In der wissenschaftlichen Tätigkeit muss der Kopfarbeiter allem Plumpen und Banalen widerstehen. Dies fällt ihm umso schwerer, als darin Anteile von ihm selbst verborgen sind. Erst das Ineinander von Versagung und Verlockung erklärt die Abscheu, die mancher Wissenschaftler den ,Niederungen' des ach so Alltäglichen gegenüber hegt. Und doch ist die lustvolle Niveauunterbietung und gelehrte Tiefstapelei - nicht ohne Grund bescheinigt Karl Heinz Bohrer Deutschland eine besonders enge Beziehung zum Ernsthaften - zumindest im akademischen Betrieb nur selten anzutreffen. Wer sich ihr hingibt, gilt als Spaßvogel und Tunichtgut, mit dessen Qualifikation es auch sonst nicht allzu weit her sein kann.

Eine Ahnung davon, wie eine Wissenschaft beschaffen sein könnte, die sich selbst nicht für unantastbar hält und ihr Tun nicht als Maß aller Dinge betrachtet, sondern es in befreiendes Lachen umzusetzen versteht, vermittelt der Beitrag "Der Geist der Geisteswissenschaften" des Stuttgarter Literaturprofessors Heinz Schlaffer in der von Jürgen Wertheimer und Peter V. Zima herausgegebenen Aufsatzsammlung "Strategien der Verdummung". Dort liest man im Abschnitt über den wissenschaftlichen Sonderdruck u. a. folgendes: "Es gibt Taktiken, um dem Druck des Sonderdrucks auszuweichen: Ein Dankesbrief verkündet die Vorfreude auf die bevorstehende Lektüre (zu der es dann nie kommt); oder ein eigener Sonderdruck geht sogleich dem Absender zu, begleitet von grimmigen ,herzlichen Grüßen' und ,besonderem Dank für den Sonderdruck', wober man das ,u' so undeutlich schreibt, daß es wie ein ,e' aussehen könnte. Dann hat man Ruhe für die eigene Arbeit - deren Resultat allerdings wieder zwanzig Sonderdrucke sind."

Die ironische Selbstdenunzierung ist allerdings nicht die Regel. Auf der Suche nach verwandten Geistern lässt sich allenfalls noch der Gießener Anglist Ulrich Horstmann anführen. Horstmann zieht seit Jahr und Tag gegen die "Verwertungsgesellschaft Philologie" zu Felde, schwärzt die akademische Lehre als "Unzucht mit Abhängigen" an oder behauptet, in der Imponiervokabel "Forschungsstand" offenbare sich die Wahrheit, die ganze doppelsinnige Wahrheit des wissenschaftlichen Fortschritts. Die Forderung nach dem Ironisch- und Selbstironischwerden der Literaturwissenschaft meldet er dabei auch in literarischer Form an. Im Universitätsroman "Das Glück von OmB'assa" erfindet Horstmann einen "Protoliteraturforschung" genannten Forschungszweig der Germanistik, der keine abgeschlossenen literarischen Werke untersucht, sondern "Vorläuferformen, also gleichsam Föten und Fehlgeburten oder, salopp gesagt, den Papierkorb der Erfolgreichen und die Schubladen der Erfolglosen". Derartige Verlautbarungen sind, wie Horstmanns akademischer Werdegang zeigt, durchaus mit einem gewissen Maß an Risikobereitschaft verbunden.

Anders stellt sich die Sache dar, wenn man Richtung Amerika schaut, genauer: in die deutsche Ausgabe der von Marc Abrahams herausgegebenen "Annals of Improbable Research". In diesem Buch stößt man auf eine sich aus zum größten Teil hochhrangigen Wissenschaftlern rekrutierende Gesellschaft, die sich offenbar die konsequente Selbstverhöhnung ihrer Zunft auf die Fahnen geschrieben hat. Davon zeugen etwa die Fotos von Nobelpreisträgern, die mit verwegener Groucho-Brille oder lustigen Hüten angetan der Verleihung des "IgNobelpreises" für "Leistungen, die nicht wiederholt werden können", beiwohnen. Der närrische Festakt findet nicht in entlegenen Hinterzimmern oder unscheinbaren Mehrzweckhallen statt, sondern in der ehrwürdigen Sanders-Aula der Harvard-Universität. Auszug aus der Liste der Preisträger: Robert Matthews (Physik) von der englischen Aston-Universität für seine Studien zu Murphys Gesetz und insbesondere für den Beweis, dass Toast immer auf die gebutterte Seite fällt; George Globe (Chemie) von der Purdue-Universität für seinen atemberaubenden Weltrekord beim Anzünden eines Gartengrills (drei Sekunden unter der Verwendung von Holzkohle und flüssigem Sauerstoff); Robert Faid (Mathematik) aus Greenville, South Carolina, für die Berechnung der exakten Wahrscheinlichkeit (8 606 091 751 822:1), dass Michael Gorbatschow der Antichrist ist; der auch in Horstmanns Roman auf den Plan gerufenen Erich von Däniken (Literatur), Phantast und Verfasser des populärwissenschaftlichen Traktats "Erinnerungen an die Zukunft", für die Theorie, dass die menschliche Zivilisation vor Urzeiten von Astronauten aus dem Weltall beeinflusst wurden...

Während die Auszeichnungen ,echten' Wissenschaftlern gelten, enthalten die "Annals" ausschließlich erdachte und konstruierte Arbeiten. Ganz offensichtlich ist es für die Wissenschaftler aus dem Umfeld der Zeitschrift besonders reizvoll, sich unter Zuhilfenahme von hochkomplexen und wissenschaftlichen Formeln, Versuchsanordnungen und Verfahren an alltäglichen Gegenständen zu verausgaben und ihr Spezialwissen darin gleichsam ,leerlaufen' zu lassen. In der Tat lesen sich ,Studien' wie die über die "Kinetik der Inaktivierung von Glasgeräten", über das "Laser-Raclette", über "das politisch korrekte Periodensystem der Elemente" oder der Vergleich der Infrarotspektren von Äpfeln und Birnen wie ein Versuch, der eigenen Disziplin jenes Quantum an Lust, Kreativität und Vergnügen zurückzuerstatten, das ihnen in der wissenschaftlichen Praxis so gründlich abhanden gekommen ist. Es bereitet Vergnügen, etwas Ergebnisloses und Unnützes mit Mitteln zu produzieren, die vor allem der Erzeugung wissenschaftlichen Mehrwerts dienen - auch wenn es dabei um einige Grade alberner und kautziger zugeht als bei Schlaffer und Horstmann zu beobachten.

In vergleichbarer Weise kanalisiert sich das Bedürfnis nach einer Entgrenzung der wissenschaftlichen Methodik in Dougal Dixons Buch "Geschöpfe der Zukunft", hier bereichert um die phantastische Dimension. In Dixons vom Gedanken einer 50 Millionen Jahre in die Zukunft hochgerechneten Evolution inspirierten Szenario ("aus der Sicht des Zeitreisenden") hat der Mensch die Arten, die heute bereits vom Aussterben bedroht sind, ausgelöscht. Aber auch Homo sapiens selbst wurde, bedingt durch Bevölkerungsexplosion und Vernichtung aller natürlichen Rohstoffe, dahingerafft. Damit ist der Weg frei für die Entstehung neuer Arten, wie z. B. den Kaninbock von der Größe eines ausgewachsenen Hirsches. (Da nämlich mit den domestizierten Huftieren auch ihre wildlebenden Verwandten den Weg alles Irdischen gingen, ist eine ökologische Nische frei geworden, die sogleich von einem Tier besetzt wurde, dessen kurzer Fortpflanzungszyklus sprichwörtlich ist.)

Dixons phantastische Zoologie entwirft ein Bild unterschiedlicher Habitate, die wahlweise mit Stoßzahnmaulwürfen, Wüstenhaien, giftigen "Fettschlangen", "Wavianen" (Raubpavianen) oder schwarz-gelb gestreiften, sich von Ast zu Ast schwingenden "Strigern" bevölkert sind. Durch Anwendung naturwissenschaftlicher Gesetzesaussagen (Evolutionstheorie) auf einen künstlich erweiterten Beobachtungszeitraum gelingt es, die Phantasie des Wissenschaftlers von der drückenden Last des Faktischen - von solcher Art ist nämlich auch die Rekonstruktionsarbeit an paläontologischen Funden - zu befreien. So großes Befremden der Anblick der merkwürdigen Kreaturen beim Leser auch hervorrufen mag, das Gedankenspiel einer von menschlicher Zudringlichkeit erlösten, sich regenerierenden und in der Hervorbringung mannigfaltiger neuer Arten über den einstigen Widersacher triumphierenden Natur kann unser verzerrtes Selbstbild zurechtrücken helfen und wirkt dadurch wie eine gedankliche Frischzellenkur.

Einen sehr guten Überblick über die verschiedenen Forschungszweige der unernsten, phantastischen und in Satire umschlagenden Wissenschaft gibt Hartmut Kaspers Aufsatz "Warum, warum, warum?" in der von Walter Jeschke herausgegebenen Anthologie "Science Fiction Jahr 2001". Warum sind Kinderstrümpfe von Kindern, die noch gar nicht laufen können, an der Sohle schwarz, "warum", zitiert Kasper Jan Philipp Reemtsmas "Antifüsiek", "bleibt die Teekanne, die schon seit Jahren einen Sprung hat, länger heil als die, die eigentlich heil ist?" Angesichts solch hochspekulativer Fragestellungen beginnen die Grenzen zwischen scholastischer Theologie und modernen Naturwissenschaften zu verschwimmen. Eben weil die Erfahrungswissenschaften unseren Erklärungsbedarf bis ins kommende Jahrtausend hinein abgedeckt haben, muss irgendwo noch das Unerklärliche existieren, die undurchschauten Zusammenhänge und geheimen Verbindungen zwischen den Dingen.

Was aber ist der gemeinsame Nenner des vom Deutschen Institut für pataphysische Studien (DIP) veröffentlichten Reemtsma-Aufsatzes, der "Eruntik" (einer "Gullivers Reisen" entsprungenen Wissenschaft, die Bakterien sprechen lehrt, indem diese durch verschiedene Gruppierungen Worte bilden), der von Monstern, Drachen, Seeschlangen, Harpyen, Minotauren, Einhörnern, Werwölfen und anderen Ungetümen handelnden Kryptozoologie oder der von Fritz Senn entwickelten "Ochlokinetik"? (Zur Erklärung: die letztgenannte Disziplin behandelt die erstaunliche Tatsache, dass immer dort, wo wir hindurchwollen, schon jemand steht.) Zu ergänzen hätte man diese Bestandsaufnahme im übrigen noch, sich Horstmanns Roman und des "IgNobelpreises" erinnernd, um die "Prä-Astronautik" und "Paläo-SETI" genannte Disziplin, der Erich von Däniken vorsteht - wenngleich damit der Bezirk des gewollt Unernsten natürlich in Richtung des ,ernsthaften' Nonsens überschritten ist.

Kasper erblickt das die phantastischen Wissenschaften verbindende Glied in ihrer Beziehung auf ein Höheres: "Offenbar ist jener Verlockung kaum zu widerstehen, die bis heute von der Spekulation ausgeht: das Gewebe der profanen Welt [...] verknüpft zu sehen mit den geheimnisvollen Eigenarten einer anderen, transzenden Sphäre". Vielleicht (um uns einmal selbst des Jargons der phantastischen Wissenschaft zu bedienen) liegt der Grund für das unernste Treiben und die kreative Rückverzauberung der Welt aber auch in der Lustfeindlichkeit der Wissenschaften und der Bezugslosigkeit ihrer Erklärungsangebote. Insbesondere die exakten Naturwissenschaften, so möchte man meinen, haben sich den sie betreibenden Menschen so weit entfremdet, dass sie psychologisch gesehen unwirksam sind. Und vielleicht sollte man sich deshalb ein, wie Ludger Lütkehaus augenzwinkernd meint, von Nietzsche "vorausschauend notiertes" Autograph in Erinnerung rufen, das zeigt, was den Wissenschaften wieder zu ihrem Glück zu verhelfen vermag: "Fröhlich i s t die Wissenschaft, wenn sie lügt gewissenhaft."

Titelbild

Marc Abrahams (Hg.): Der Einfluß von Erdnußbutter auf die Erdrotation. Forschungen, die die Welt nicht braucht.
Birkhäuser Verlag, Basel 1999.
161 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3764359412

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Dougal Dixon: Geschöpfe der Zukunft. Die Tierwelt in 50 Millionen Jahren.
Heel Verlag, Königswinter 1999.
125 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3893658092
ISBN-13: 9783893658091

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Walter Jeschke (Hg.): Das Science Fiction Jahr 2001. Ein Jahrbuch für den Science Fiction Leser.
Heyne Verlag, München 2001.
874 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3453179447

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Titelbild

Jürgen Wertheimer / Peter V. Zima (Hg.): Strategien der Verdummung. Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft.
Verlag C.H.Beck, München 2001.
169 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3406459633

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