Mittelpunkt Birma

Amitav Gosh erzählt eine Familiensaga

Von Monika PapenfußRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Papenfuß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine reiche Welt tut sich in dem neuen Roman von Amitav Ghosh auf, eine Welt, die für viele Leser unbekannt und verwirrend sein dürfte. Der in Kalkutta geborene und heute in New York lebende Autor führt uns zunächst nach Birma. Eine weit verzweigte Familiensaga nimmt hier 1885 mit dem zwölfjährigen indischen Waisenjungen Rajkumar ihren Ausgang, der nahe dem birmanischen Königspalast in einer Garküche arbeitet und miterlebt, wie die Königsfamilie von den Engländern aus dem Palast vertrieben wird. Jahre später, vom Küchenjungen zum Hilfsarbeiter und schließlich unter Mithilfe seines väterlichen Freundes Saya John zum erfolgreichen Geschäftsmann avanciert, folgt er dem birmanischen Königspaar an seinen Exilort an der Westküste Indiens. Er ist auf der Suche nach Dolly, dem Kindermädchen der birmanischen Prinzessinnen, in das er sich seinerzeit verliebt hatte. Durch die familiären Bindungen, die zwischen Saya John, Rajkumar, Dolly und deren Feundin Uma, Frau des höchsten Kolonialbeamten im indischen Exil entstehen, erweitert sich der Schauplatz des Romans auf Indien. Durch das Schicksal der zahlreichen Familienmitglieder über mehrere Generationen hinweg erhält der Leser ein fesselndes Bild der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Indien und Birma. Da ist zum Beispiel Uma, die sich nach dem Tod ihres Mannes aus der traditionellen Rolle einer indischen Witwe befreit und zu einer weltweit anerkannten Streiterin für die indische Unabhängigkeit wird. Da ist aber auch ihr Neffe Arjun, der sich durch seine Zugehörigkeit zu den englischen Streitkräften zur Elite seines Landes wähnt und dem erst durch den Krieg die Augen über seine wahre Rolle geöffnet werden.

Dies sind nur zwei Beispiele aus dem reichen Arsenal von Personen, die alle eine häufig leidvolle Geschichte erzählen und auf diese Weise dem Leser die blutige Geschichte ihrer Länder nahebringen. Im Mittelpunkt der Erzählung bleibt Birma - vom Zusammenbruch der Monarchie zur englischen Kolonie bis hin zum Einfall der Japaner im Zweiten Weltkrieg. Der Leser wird Zeuge am schleichenden wirtschaftlichen und kulturellen Verfall dieses Landes während der englischen Kolonialzeit, er erlebt den Eintritt der Japaner in die birmanische Geschichte, der erneut Tod, Flüchtlingselend und Fremdherrschaft über das Land bringt und er nimmt teil am Alltag in der Diktatur und am vereinzelten Aufbäumen gegen die Fremdherrschaft. Auch wenn die meisten der in diesem Buch beschriebenen Lebenswege qualvoll enden: vielleicht ist das Zusammentreffen von Rajkumars Enkelin, die in den Staaten lebt, mit ihrem Onkel Dinu, Rajkumars und Dollys Sohn, der nach Rangun zurückgekehrt ist, als Hoffnungsschimmer für eine Versöhnung von Vergangenheit und Zukunft zu verstehen.

Wer die Lektüre wegen der umfangreichen Personenzahl und den vielen fremdländischen Schauplätzen scheuen sollte, der sei beruhigt: der Leser erhält sowohl eine Karte als auch einen Familienstammbaum an die Hand. Beides sorgt dafür, dass er sich nicht verliert und in Ruhe einsinken kann in die fremde Welt dieses Buches.

Titelbild

Amitav Ghosh: Der Glaspalast. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Margarete Längsfeld und Sabine Maier-Längsfeld.
Blessing Verlag, München 2001.
600 Seiten, 25,10 EUR.
ISBN-10: 3896671200

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