Das Soziale als Passepartout

Neue Interpretationen der Hauptwerke der Sozialphilosophie

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende des 19. Jahrhunderts differenzierte sich neben der Psychologie auch die Soziologie als selbständige Wissenschaft aus. Wie jede Wissenschaft, die sich ernst nimmt, zeigt auch sie in ihren ambitioniertesten Entwürfen Flagge als gesellschaftliche "Leitwissenschaft". Und tatsächlich: Gerade die aktuelle Diskussion über biotechnologische Möglichkeiten, in der sich alle Kontrahenten im einen oder anderen sozialphilosophischen Lager mit Argumenten versorgen, zeigt die Relevanz gesellschaftstheoretischer Positionen für das heutige Selbstverständnis der Gesellschaft. Denn "die Biotechnologien drängen die Naturschranken des Menschen noch weiter zurück, am Horizont und mit der demokratisch legitimierten Bio- und Informationstechnologie im Rücken entsteht das (naturalistische) Bild des Menschen als eines biotechnischen Artefakts", wie der Darmstädter Philosophieprofessor Gerhard Gamm konstatiert.

Zwei folgenreiche Veränderungen kennzeichnen nach Ansicht Gamms das Welt- und Menschenverständnis der Moderne: der Tod Gottes und der Entzug der Natur. Gefüllt wurde (und wird) das hinterlassene Vakuum zunächst vor allem durch ein neues Zeitverständnis. Im 18. und mehr noch im 19. Jahrhundert interessiert man sich für Entwicklungen, Fortschritte, Evolutionen und Genealogien, für Epochen, Periodisierungen und Stadien. Eine Folge dieses Interesses ist ein die Moderne prägendes neues Bewusstsein von der Wandelbarkeit des Menschen: "Die klassische Idee einer mit Universalien oder Konstanten ausgestatteten menschlichen Natur wird durch ein neues historisches Apriori ersetzt, nach dem sein (Gattungs-)Wesen je nach Kultur oder Geschichte in einem nicht unerheblichen Maße variiert", konstatiert Gamm. Die immer drängendere Frage nach dem Menschen und seiner "Natur" vermag aber weder die Anthropologie noch die Geschichtsphilosophie so recht zu beantworten, beide scheitern an der offenkundigen Kontingenz sozialer Praktiken.

Als ein Passepartout zur Bewältigung der sich daraus ergebenden Problemlast fungiert im 20. Jahrhundert mehr und mehr das "Soziale" - ein vielseitig verwendbarer Begriff. Zum Beispiel in der Ethik, für die dieses Soziale ein Bewusstsein innerweltlicher Problemlösungen vermittelt, denn "solche nach der moralischen Unterscheidung von gut und böse durchgeführten Klassifikationen [können] in soziale übersetzt, entmythisiert und nach Verhaltensbegriffen wie Konformität und Abweichung, soziale Erwünschtheit und Unerwünschtheit interpretiert werden."

Zusammen mit Andreas Hetzel und Markus Lilienthal hat Gamm jetzt in der Reihe der "Interpretationen" des Reclam Verlages eine hilfreiche Einführung in die "Hauptwerke der Sozialphilosophie" vorgelegt. Die Auswahl reicht von Marx' "Kapital" über Georg Simmels "Philosophie des Geldes" bis hin zu den Hauptwerken Foucaults, Bourdieus, Habermas' und Luhmanns. Den Abschluss bildet ein von Andreas Hetzel verfasstes Porträt des in Deutschland noch vergleichsweise wenig bekannten polnischen Soziologen und Theoretikers der Postmoderne, Zygmunt Bauman. Dagegen fehlen in der Auswahl so resonanzreiche Klassiker der Sozialphilosophie wie "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" von Peter L. Berger und Thomas Luckmann, George Herbert Meads "Geist, Identität und Gesellschaft", Husserls "Krisis"-Schrift und Erving Goffmans "Wir spielen alle Theater".

Glücklicherweise nehmen die Autoren das von der Verlagsreihe vorgegebene Korsett, nur die Hauptwerke der jeweiligen Sozialtheoretiker zu präsentieren, nicht allzu ernst: Das Konzept der Konzentration auf ein Werk funktioniert grob gesagt nur bis Elias' "Prozeß der Zivilisation" und Horkheimer/Adornos "Dialektik der Aufklärung". Aber was zum Beispiel Markus Lilienthal über Luhmanns Hauptwerke "Soziale Systeme" und "Die Gesellschaft der Gesellschaft" schreibt, ist nichts anderes als eine gelungene Kurzeinführung in die Systemtheorie - aber eben keine Werkinterpretation.

Nur gelegentlich eingelöst wird jedoch der im Vorwort verkündete Anspruch, die sozialtheoretischen Klassiker "auch in der Weise zu lesen, daß sie ein erhellendes Licht auf die Gegenwart werfen". Beispiel Freud: Gamm referiert in seiner im übrigen vorzüglichen, vorbildlich textnahen Lektüre von Freuds wirkmächtiger Schrift "Das Unbehagen in der Kultur" von 1930 zwar die psychoanalytische These vom kulturkonstitutiven Triebverzicht, dem alle Mitglieder der Gesellschaft um den Preis von Schuldgefühlen Folge leisten müssen. Den doch auf der Hand liegenden Vergleich mit der Gesellschaft des Jahres 2001 zieht Gamm jedoch nicht: Dabei lehrte dieser, dass Freuds Gesellschaftstheorie allenfalls eine Teilantwort bietet. Denn bekanntlich gründet sich unsere kunterbunte Konsumgesellschaft nicht auf Triebverzicht und Sublimation, sondern auf forcierte Triebauslebung und dem postmodernen, von jedem Werbespot angemahnten kategorischen Imperativ "Genieß!"

Ebenso unverständlich bleibt, dass Gamm Freuds hellseherische Ausführungen zu dem durch seine technischen Erfindungen zum "Prothesengott" gewordenen modernen Subjekt nicht in Beziehung setzt mit den aktuellen Diskussionen über die sich ankündigenden "Anthropotechniken". Dabei würde gerade ein psychoanalytisch bzw. narzissmustheoretisch angeregter Blick auf jene raunenden Verkünder einer posthumanen Welt, die die Menschenwürde verabschieden und stattdessen von der "Würde der Information" Marc Jongens faseln, wohl einiges verstehbarer machen.

Titelbild

Gerhard Gamm / Andreas Hetzel / Markus Lilienthal: Hauptwerke der Sozialphilosophie. Interpretationen.
Reclam Verlag, Stuttgart 2001.
310 Seiten, 8,20 EUR.
ISBN-10: 3150181143

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