Ein Mythos wird demontiert

Barbara Vinkens "Die deutsche Mutter"

Von Elisabeth BronfenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elisabeth Bronfen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Heilsgeschichte, die die Wachowski Brüder im Film "Matrix" an der Erlöserfigur Neo festmachen, trägt im Herzen ein Schreckbild. Morpheus, der lange auf diese Retterfigur gewartet hat, zeigt ihm, wie die Welt in Wirklichkeit aussieht. Nach dem Sieg der Maschinen über die Erde werden Menschen als Batterien eingesetzt - ihre Körperwärme wird als Energiequelle benötigt. Zu tausenden liegen sie in gigantischen Kraftwerken, eingesperrt in eiförmigen Bottichen. Ihr Gehirn ist an einen Großcomputer angeschlossen, deshalb glauben sie, sie leben in einer menschlichen Welt.

Das radikal Neue dieses Horror-Szenarios besteht weniger in der totalen Versklavung des Menschen als darin, dass es keine natürliche Geburt mehr gibt. Auf riesigen Brutbetten werden Babys von Maschinen gezüchtet, mit der Körperflüssigkeit verstorbener Menschen gefüttert, und schließlich geerntet. Gegen dieses monströse Ausschalten der Mutterfunktion richtet sich der Kampf von Morpheus und seiner Mannschaft. Zwar hat der Film mit der Figur der Trinity, die mit ihrem Glauben, er sei der Auserwählte, Neo zu neuem Leben erweckt, durchaus eine Heilige-Mutter-Figur. Doch ihr Lederkostüm sowie ihre übermenschliche Kampfkraft machen sie zur androgynen Erscheinung, wie auch die Familie, die sie beschützt, eine künstlich zusammengesetzte ist. So wie Donna Harroway es mit ihrem Cyborg-Manifest propagierte, werden hier Gemeinschaftsbeziehungen gepflegt, die nicht durch Blutsverwandtschaft, sondern durch gegenseitig empfundene Affinität reguliert sind.

Eine sehr utopistische Fantasie ist es also, die der Film entwickelt, und eine ur-amerikanische. In Deutschland bleibt die Familie der Ort, der allein die Menschenproduktion zu regulieren hat. Mit einer erstaunlichen Hartnäckigkeit hält sich - so Barbara Vinkens polemische These - in unserem kollektiven Bildrepertoire ein längst veraltetes Mutterbild am Leben. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern ist hier weiterhin die Vorstellung lieb: Mutterschaft ist eine Berufung; die mit der Ausübung eines Berufes nicht vereinbar ist. Für die glückliche Entwicklung des Kindes ist nämlich eine symbiotische Beziehung zur Mutter unabdingbar, die dem Kind einen permanenten Anspruch auf seine natürliche Gebärerin zuspricht. Dazu gehören jene kulturellen Konventionen, die als Inbegriff einer natürlichen Mütterlichkeit zum Alltagsmythos geworden sind: Das unmittelbare Anlegen an die Brust ist für das Neugeborene prägend, wie auch der erste Blickkontakt zwischen Mutter und Kind. Da der Blick der Mutter zudem ständig auf das Kind gerichtet sein soll, ist sowohl eine längere Trennung wie auch das Auswechseln der Bezugsperson dringlichst zu vermeiden. Hinzu kommt, dass natürliche Mutterschaft, die eine Idylle jenseits der von hartem Wettbewerb gezeichneten Arbeitswelt gewährleistet, als letztes Reservat an Menschlichkeit dient: Am Körper der deutschen Mutter, die sich mit ihren Kindern verschmolzen hat, fallen Religion und Natur zusammen. Diese Vereinigung ist Garant privaten Glücks, verspricht Heilung vom Übel der Welt.

Barbara Vinken hat mit ihrer Demontage dieses zweifelhaften Mythos eine konkrete Familienpolitik im Sinn. Scharfsinnig weist sie darauf hin, dass die Kinder unserer französischen und dänischen Nachbarn nicht neurotischer oder emotional gestörter sind als unsere, und auch keine Verwahrlosungserscheinungen und Leistungsblockaden aufweisen, obgleich sie von klein auf ganztägig in Kindergärten und Schulen betreut werden. Sie sind womöglich sogar selbstständiger. Deshalb fordert Vinken eine Revision des Mutterbildes, das die Mutter als normale Erwachsene in einer Welt normaler gesellschaftlicher Verpflichtungen versteht, anstatt ihren Wert mit einer bedingungslosen Bereitschaft zur Selbstaufgabe und einem Rückzug aus der Öffentlichkeit gleichzusetzen. Andererseits liegt die Schärfe von Vinkens Polemik vornehmlich darin zu fragen, warum man in Deutschland überhaupt bereit ist, das private Glück der Mutterschaft als Entschädigung für den Verlust von Erwerbstätigkeit und Macht im öffentlichen Raum auf sich zu nehmen.

Vinkens psychologisierende Erklärung für dieses Rätsel lautet: Die deutsche Mutter erhält in ihrer symbiotischen Beziehung zu ihrem Kind eine narzisstische Befriedigung. Hier bekommt sie die Fantasie widergespiegelt, sie sei einzig und unersetzlich. Das bedeutet aber auch: Mutterschaft erlaubt deutschen Frauen, sich aus dem Arbeitswettbewerb freistellen zu lassen. Die sanktionierte Regression in die Welt des Kindes kann demnach durchaus auch als willentlicher Verzicht auf Verantwortung gesehen werden. Ein Leben, das gänzlich um das des Kindes organisiert ist, hat tatsächlich an Komplexität verloren. Diesen Zustand einer selbst gewählten Ohnmacht als das Schicksal eines wahren Frauseins zu deklarieren, nützt einer doppelten Kompensation. Die deutsche Mutter muss sich - im Gegensatz zu Frauen aus weniger privilegierten Ländern - den Widersprüchen, die ein Erwerbsleben mit sich bringt, nicht aussetzen, und kann sich aus Verantwortungen zurückziehen. Sie kann sich dabei aber auf eine Gesetzmäßigkeit berufen - nicht sie hat sich für diesen Rücktritt entschieden. Es liegt in ihrer Natur.

Um aufzuzeigen, aus welchen kulturhistorischen Bezügen sich dieser Mythos speist, kehrt Barbara Vinken zu deren theoretischen Begründern zurück. Den Anfang bildet Martin Luther, der die patriarchalische Familie zur einzig möglichen Lebensform deklarierte. Im Zuge der Reformation sollte die weltliche Mutter die Nonnen ablösen - nicht eine verzückte Liebe zu Christus sollten Frauen genießen dürfen, sondern sich ihren Ehepflichten widmen. Ende des 17. Jahrhunderts kam dann unter Federführung Rousseaus die Entdeckung des Kindes, dessen Unschuld gegenüber einer weltlichen Verdorbenheit - mit Muttermilch und Fürsorge - geschützt werden musste. Bei ihm war es die höfische Frau von Welt, die als Inbegriff korrupter Eitelkeit zum Schreckbild aller wahren Mütter auserkoren wurde.

Mit den erzieherischen Schriften Pestalozzis findet dann der Streit zwischen städtischem Adel und ländlichem Bürgertum seine nachhaltigste Verschriftung - er machte sich stark dafür, Mütterlichkeit als Heilmittel gegen Weltverfallenheit zu begreifen. Wie Barbara Vinken je doch ironisch bemerkt: Man wird nicht als Mutter geboren, sondern dazu gemacht, und zwar von männlichen Pädagogen. Mit einer Demythifizierung der Königin Luise von Preußen endet dieser Streifzug. An der Art, wie diese Herrscherin vornehmlich ihre intime Privatheit und die innige Traulichkeit ihrer Familie zur Schau stellte, macht Vinken überzeugend fest, dass es dieser Königin gelungen war, den öffentlichen Raum nach dem Modell der Wohnstube umzuwandeln. Im Volksmund stirbt sie dann, nach der Niederlage Preußens, an gebrochenem Herzen. Man ist geneigt in der ebenfalls jung verstorbenen Princess Diana ein zeitgenössisches Beispiel für diese Königin mit Herz zu sehen, doch fällt einem dabei sofort der Unterschied auf, der Barbara Vinkens These stützt. Diana starb nämlich in genau jenem Augenblick., als sie sich von der königlichen Mutterrolle gänzlich abzuwenden drohte und rnehr noch femme du monde sein wollte.

In Ina Seidels Roman "Wunschkind" (1930) lässt sich für Barbara Vinken dann jene unglückliche Komplizität zwischen konservativer Frauenbewegung und NS-Ideologie auffinden, die auch heute noch nachwirkt. Im Wettstreit zwi schen zwei Frauen - einer halbfranzösischen Städterin, die für die Verderbtheit der Welt steht, und einer rein deutschen bürgerlichen Landgutbesitzerin, die eine Erlösung der Welt vertritt - findet sich einmal mehr der Mythos bestätigt: Die Mutter gibt sich in Liebe hin und ist bereit, den Sohn im Krieg zu verlieren, weil der Tod fürs deutsche Volk gleichbedeutend ist mit einer Rückkehr in den mütterlichen Schoß. Erschütternd wirkt weniger die antifranzösische Haltung als der Umstand, dass sich nachträglich in diesem Roman ein bruchloser Übergang in die Mutterpolitik der NS-Zeit ablesen lässt: Die Liebe der deutschen Mutter als Inspiration für einen Opfertod im totalen Krieg, der der deutschen Nation zur Erlösung verhelfen soll.

Gerade an dem Umstand, dass somit die deutsche Mutter den Dreh- und Angelpunkt jenes kulturpolitischen Programms bildete, der Nationalgeschichte zur Heilsgeschichte werden ließ, macht Barbara Vinken auch ihre kühnere Erklärung für das hartnäckige Nachleben des Mythos fest. Der Rückzug in die Idylle des trauten Familienglücks könnte auch als Abwehr des NS-Erbes verstanden werden. Gegenüber einer absoluten Professionalisierung von Mutterschaft, die quer zur patriarchalen Familie lag, weil Kinder nicht für ihre Eltern sondern für den Führer geboren werden sollten, ist es sicherlich moralisch leichter vertretbar, auf die bürgerliche Familienutopie des 18. Jahrhunderts zurückzugreifen.

Zurecht führt Barbara Vinken für ihre Entlarvung des deutschen Mutter-Mythos als eine der politisch brisantesten Formen der Reglementierung weiblicher Selbstbestimmung immer wieder die französische Kultur als Gegenbild auf. In der dort verankerten Aufwertung der Nonne, der Aristokratin und der Arbeiterin könnte man tatsächlich die Inspiration für eine Neukonzeption der Mutter nehmen. Doch die Feststellung eines deutschen Sonderwegs trifft das Problem nicht ganz. Betrachtet man das neueste ideologische Machwerk aus Hollywood - Michael Bays "Pearl Harbor" -, entdeckt man, wie ubiquitär wirkungsvoll der Mythos der sich in Mutterliebe aufopfernden Frau sein kann. Die Schwangerschaft der Heldin ist nicht nur der Grund, warum nicht der Vater, dafür dessen bester Freund unversehrt aus dem Krieg heimkehren muss. Die Mutterschaft verleiht ihr zudem die Autorität, am Ende des Films den bevorstehenden Sieg der Amerikaner über die Japaner stolz zu verkünden. Tatsächlich sehen wir am Ende nicht etwa die Explosion der Atombombe über Hiroschima, mit der die amerikanische Regierung das Trauma von Pearl Harbor zu vergelten suchte, sondern das vertraute bürgerliche Familienidyll. Der Sohn des Verstorbenen wird bereits als Knabe von dessen besten Freund zum Piloten ausgebildet, während die Mutter abseits stehend sie liebevoll beobachtet. Darin bestätigt "Pearl Harbor" das zentrale Diktum Barbara Vinkens: Mütter machen nicht Geschichte, sondern erlösen von ihr. Und das Rätsel um das Nachleben des Mutter-Mythos wirft die Frage auf, warum es in unserem Bildrepertoire so wenig nachhaltige Darstellungen für eine Weiblichkeit gibt, die unabhängig von Mütterlichkeit gedacht wird. Vielleicht müssen wir erst noch begreifen, dass wir von der Geschichte, sowie den Traumata und der Schuld, die sie uns vererbt, nicht erlöst werden können.

Titelbild

Barbara Vinken: Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos.
Piper Verlag, München 2001.
329 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3492038611

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