Zu dieser Ausgabe

Lyrik kam in den bisherigen Nummern von literaturkritik.de kaum vor. In diesem Heft haben wir sie zum eigenen Schwerpunktthema gemacht. Lutz Hagestedt hat es betreut und mit etlichen Hinweisen darauf eingeleitet, daß Lyrik vor der Jahrtausendwende erneut ins Gespräch gekommen ist. Dieses Gespräch wird hier fortgeführt. Und es ist uns gelungen, daran Autoren zu beteiligen, deren Kennerschaft in der Lyrik-Szene der Bundesrepublik einschlägig bekannt ist. Für die Nach- oder Abdruckerlaubnis ihrer Beiträge danken wir sehr.

Robert Gernhardt ist gleich mehrfach präsent, als Dichter wie als Kritiker, weil er uns zum einen in seinem Gespräch über Rap und HipHop wichtige Hinweise über die Nähe, aber auch über die Distanz der Lyrik zur Musik gibt und weil er uns zum anderen ein Beispiel für eine noch ungewöhnliche, doch nachahmenswerte Art der Literaturkritik vorgeführt hat. Für Philologen, denen ein abgeschlossener Text gleichsam heilig ist, fast undenkbar, für Verlagslektoren fast eine Selbstverständlichkeit: Literatur läßt sich nichtnur durch Rezensionen kritisieren, sondern auch durch verändernde Eingriffe in den Text. Gernhardt hat das unlängst mit einem Gedicht von Gottried Benn versucht. Wir haben den Versuch nachgedruckt. Für diese Form der Auseinandersetzung mit Texten eignen sich lyrische Texte aufgrund ihrer relativen Kürze besser als Erzählungen, Dramen oder gar Romane. Sie umzuschreiben kann auch zu einem Spiel werden. Daß es vor allem die Lyrik ist, die zu literarischen Spielen einlädt, geht nicht zuletzt aus dem Beitrag von Wulf Segebrecht hervor, der das Spiel mit Goethe und seiner Lyrik in Gedichten der Gegenwart mit einer Fülle von Beispielen beschreibt.

Lyrik hat es auf dem Buchmarkt nicht leicht. Wenn es jedoch gelingt, daß Lyrik wieder als ein sprachliches Spiel nach vorgegebenen oder selbst auferlegten Regeln verstanden wird, dann könnte es auch glücken, das kollektive Vergnügen, das Lyrik in hohem Maße zu bieten hat, wiederzuentdecken.

Einiges dazu hatte Hans Magnus Enzensberger vor fünfzehn Jahren unter dem Pseudonym Andreas Thalmayr mit seinem nach wie vor wunderbaren Buch "Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen" beigetragen. "Hundertvierundsechzig Spielarten" literarischen Schreibens stellte er hier vor und schrieb im Vorwort, es sei "nie ein simples", sondern "schon immer ein höchst verwickeltes Spiel gewesen, das die Dichter und ihre Leser trieben."

Wo das Bedürfnis nach Literatur auf jenen Spieltrieb zurückgeführt wird, der nach Johan Huizinga Grundlage aller menschlichen Kultur ist, da lassen sich die Lust, das Vergnügen, die Freude an ihr kaum noch ignorieren. In dem Vorwort Enzensbergers bekam die Assoziation von Spiel und Lust programmatischen Charakter: "Die Lust, Gedichte zu lesen, ist uns einfach abhanden gekommen. Vielleicht sind die Dichter schuld? Vielleicht haben wir sie satt, mit ihren Tiraden, ihrem Grimm, ihrem Ekel, ihrer Emphase, ihrem ewigen Narzißmus?/ Oder liegt es an uns?/ Warum kommt es uns manchmal so vor, als haftete der ganzen Sache, der 'Lyrik', etwas Trübes, Zähes, Dumpfes, Muffiges an?/ Aber war da nicht irgendwann, irgendwo was Anderes? Ein Lufthauch? Eine Verführung? Ein Versprechen? Ein freies Feld?/ Ein Spiel?"

Weniger vertrauenerweckend als in seinen poetologischen ist Enzensberger in seinen politischen Äußerungen. Scharfsinn schlägt hier schnell in Unsinn um. Schon 1991 waren seine Äußerungen über den Golfkrieg in ihrem anthropologischen Fundamentalismus äußerst fragwürdig. Die über den Kosovo-Krieg sind es heute nicht weniger. Ausgerechnet die Terrororganisation UCK, die an dem Krieg gewiß nicht unschuldig ist, empfiehlt er gleichsam als Instrument westlicher Menschenrechtspolitik. Es wäre eine Diffamierung der 68er Bewegung, wollte man Enzensbergers Votum auf eine schon damals verbreitete Mentalität der Gewaltbereitschaft zurückführen. Doch hat es gelegentlich den Anschein, als ergreife die damals junge Generation heute die Gelegenheit, den früheren Kampf gegen den postnazistischen Faschismus und für die Menschenrechte noch einmal aufzugreifen, dabei indes Pflastersteine durch die Militärmaschinerie der NATO zu ersetzen.

Der Lyriker und Büchner-Preisträger Durs Grünbein gehört allerdings einer jüngeren Generation an. Und auch er rechtfertigt die Bomben der NATO - als Erziehungsmittel gegen den Nationalismus eines Volkes und als gerechte Bestrafung. So fragwürdige Verlautbarungen würden noch nicht einmal die Pressespecher der NATO von sich geben. Für manchen angesehenen Dichter wäre es besser, sich von den Medien nicht zu politischen Stellungnahmen herausfordern zu lassen.

Wer in dem medialen und intellektuellen Stimmengewirr zum Krieg nach überzeugenden Argumentationen aus der literarischen Szene gegen das Vorgehen der NATO sucht, hat es gegenwärtig nicht einfach. Es gibt solche Stimme durchaus, zum Beispiel die von Christoph Hein oder die von György Konrád. Die von Peter Handke macht es einem hingegen schwer, sich dieser Kritik anzuschließen. Ganz so versponnen, wie sie sich ausnimmt, ist sie allerdings nicht. Wie der Beitrag von Kolja Mensing deutlich macht, vermischen sich in Handkes Position modernitäskritische Impulse mit antiwestlichen Ressentiments auf eine Weise, die keineswegs singulär ist.

literaturkritik.de geht in dieser Ausgabe wie in der vorigen auf etwa sechzig Bücher ein. Diesmal sei nicht nur wieder die nach wie vor anwachsenden Leserschaft für Ihr ermutigendes Interesse bedankt, gedankt sei ausdrücklich auch den Verlagen, den Beiträgern sowie den Mitarbeitern der Redaktion für ihre Unterstützung und ihr Engagement.

Thomas Anz