"Poesie als Grenzüberschreitung" oder warum die Chancen der Lyrik nach der Jahrtausendwende steigen

Eine Polemik

Von Anton G. LeitnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton G. Leitner

Peter Hamm, der im Bayerischen Rundfunk seine Aufgabe als Literaturredakteur seit Jahren diskret wahrnimmt, verfaßte unlängst für die Wochenzeitung "Die Zeit" (Nr. 13 vom 25. März 1999) eine Wulf Kirsten-Rezension, in der er zu einem Rundumschlag gegen Dichter der jüngeren Generation ausholte. Hamm nimmt in seinem Beitrag den Gestus dessen ein, der "sich mit wachen - sozusagen erwachsenen - Augen" in der "lyrischen Landschaft umsieht". Er ist regelrecht "abgestoßen" vom "postmodernen Recycling, das flächendeckend betrieben" werde. Und ohne Namen zu nennen, beklagt der "aufmerksame" Repräsentant des öffentlich-rechtlichen Rundfunks weiter, daß die Jungen "entweder die kalauernde Spaßkultur bedienen" oder "mayröckernd ,sprachreflektorisch' und bedeutungsstaplerisch" auftreten würden.

Wie aber kommt einer, der vor 33 Jahren noch neugierig war und in seiner Anthologie "Aussichten" (1966) noch nicht etablierte Autoren wie Volker Braun, Hubert Fichte oder Reinhard Priessnitz publizierte, heute selbst als Dichter daher? Hamm wartete zuletzt Mitte der 80er Jahre in seinem Gedichtband "Die verschwindende Welt" mit diesen Versen auf: "Unsere Worte / willfährig - / oder wund. // Was ist noch / unaussprechlich?" Eine derartige Wortschöpfung rechtfertigt es meines Erachtens nicht, den Mund allzu voll zu nehmen.

In seinem "Zeit"-Artikel bezieht sich Hamm auf den Berliner Literaturprofessor Harald Hartung, der unserer Zeit "lyrischen Dilettantismus als Massenphänomen" attestiert. Diese Kritik erträgt es offenbar nicht, daß gerade unter den nachwachsenden Autoren intellektuell wie sprachlich hochstehende Lyriker vertreten sind: Franz Josef Czernin, Ulrike Draesner, Durs Grünbein, Dirk von Petersdorff, Thomas Kling, Michael Lentz, Ferdinand Schmatz, Raoul Schrott. Diese Kritik hat den sicheren Blick dafür verloren, daß in der Literaturlandschaft einschneidende Änderungen bevorstehen, die über einen normalen Generationswechsel hinausgehen.

Eine Generation überschätzter Poeten tritt ab, zu der ich auch Sarah Kirsch zählen möchte: "So viel Sehnsucht / Tag und Nacht. Hab gerade / Die Pflanze Herzgespann / Uns erfunden." Bezeichnenderweise wurden diese Verse veröffentlicht im Band "Bodenlos" (1996). Reiner Kunze, der einst mit lakonischen Versen ("zimmerlautstärke", 1977) brillierte, konnte nach seiner Übersiedlung aus der ehemaligen DDR in die Bundesrepublik nicht mehr gegen alte Feinde anschreiben und blieb bei lyrischen Grußadressen an neue Freunde hängen. Sein Werk ("eines jeden einziges leben", S. Fischer, Frankfurt/M.1986) wird von der seriösen Kritik kaum mehr beachtet. Eine ähnlich tragische Entwicklung ist im dichterischen Spätwerk von Hans Magnus Enzensberger festzustellen. Er, der in jüngeren Jahren als politisch engagierter Kopf und findiger Herausgeber mit genialen Vernetzungsfähigkeiten wortmächtig für eine bessere Literatur arbeitete, dilettiert seit einigen Jahren in moralinsauren Tönen: "Ich habe oft das Gefühl (brennend, / dunkel, undefinierbar usw.), / daß das Ich keine Tatsache ist, / sondern ein Gefühl, / das ich nicht loswerde." ("Kiosk", 1995). Peter Härtling beweist wiederholt und eindrucksvoll, daß Hartungs Dilettantismus-These vom Ansatz her zutrifft, allerdings auf die falsche Generation bezogen wird: "Komm, wir gehen Berge versetzen / Wir stülpen die kranke Erdhaut um. / Komm, wir spielen mit dem Entsetzen / Und nehmen Katastrophen nicht krumm." ("Das Land, das ich erdachte", Stuttgart, 1993, auch in "Gedichte", Köln 1999).

Es ließen sich noch unzählige weitere Zitate anführen, die eindrucksvoll belegen würden, daß es mit der Lyrik nicht so wie bisher weitergehen kann. Es wundert mich nicht, daß seit Jahren kein deutschsprachiger Lyriker in die engere Auswahl für den Literaturnobelpreis gekommen ist. Es besteht kein Zweifel: die Dichtung der beschriebenen Art, die inflationär mit kommunalen oder staatlichen Preisen subventionierten Betroffenheitslyrismen und gefälligen Schlagersubstitute in Versform müssen verschwinden.

Natürlich gibt es unter den etablierten Autoren Ausnahmen. Erstrangige Gesamtwerke wie das von Friederike Mayröcker oder das von Ernst Jandl bestätigen die Regel. Karl Krolow ist ein brillianter Techniker, der seinen hohen thematischen und formalen Anspruch mit ungeheurer Leichtigkeit, Raffinesse, Schönheit und Vollendung umzusetzen weiß. Im übrigen ist Krolow der klügste, aufmerksamste, genaueste, förderndste, hilfreichste und liebevollste Lyrikkritiker der fünfziger und sechziger Jahre. In Sachen Handwerk und Lyrikkritik kann man heute noch viel von ihm lernen. Seit Jahren schwer krank, hat er jedoch schon längere Zeit nichts wirklich Neues mehr schaffen können und kommt insofern als dichterischer Garant für den Schritt ins nächste Millenium nur bedingt in Frage.

Tausende von Fernsehzuschauern richten ihre Bucheinkäufe inzwischen danach aus, welche Titel im "Literarischen Quartett" besprochen werden. Dabei wirkt es sich verheerend aus, daß Lyrik hier komplett ausgeklammert wird. Der Grund mag in der Angst begründet liegen, daß Lyrik sich für Entertainment nicht eignete, daß niedrigere Einschaltquoten die Folge wären, doch man darf die Neugier und die Intelligenz seiner Zuschauer nicht unterschätzen. Seit mehr als zwanzig Jahren werden in der "Frankfurter Anthologie" deutsche Gedichte mit großer Leserresonanz vorgestellt und interpretiert. Es ist schade, daß Marcel Reich-Ranicki, der in der F.A.Z. diese einzigartige Rubrik geschaffen hat, nicht auch dem vielfältigen Wunsch des Publikums nach einer "Fernseh-Anthologie" Rechnung trägt.

Eine neue Kritikergeneration muß ihren Weg erst finden; leider tut sie es unter dubiosen Vorzeichen: Freundschaftsbekundungen wechseln öffentlich hin und her. In der Schweizer Zeitschrift "Zwischen den Zeilen" führt Kritiker Michael Braun ein Gespräch mit Autor und Kollege Michael Buselmeier (Nr. 3, Januar 1994), der sich in der "Frankfurter Rundschau" mit überschwenglichem Lob bedankt (vgl. z. B. FR vom 24. Juni 1995 oder vom 18. November 1995). Mit Staunen registriert der aufmerksame Beobachter, daß Braun und Buselmeier auch gern einmal ein- und dieselbe Kritik unter dem Namen des je anderen publizieren. Ein Fundstück belegt: In der "Frankfurter Rundschau" vom 27. November 1993 erscheint die "Zeitschriften Rundschau" unter dem Namen Michael Buselmeier. Der Saarländische Rundfunk weist vierzehn Tage zuvor Michael Braun als Verfasser der gleichen Kritik aus ("Zeitschriftenlese" vom 13. November 1993). Ein Schelm, der Schlimmes dabei denkt. Eine ähnlich traurige Figur gibt der 1957 geborene Dichterkritiker Michael Basse ab. Seine Verseschmiede ist auch Maßstab seiner biederben Kritik: "Das Meer das meer, / es fließt direkt zu mir ins Haus / als müßt es mich waschen / rein // ich an / seele wo bist du?" (In: "Die Landnahme findet nicht statt", 1997).

Ästhetisch also stehen viele Nachwuchskritiker ihren älteren Kollegen in nichts nach. Michael Braun beispielsweise, Jahrgang 1958, fühlt seit Jahren die Berufung, Zensuren zu verteilen. Auf seiner Notenskala, die einem strengen Freund-Feind-Schema folgt, ist zwischen "sehr gut" und "ungenügend" wenig Differenzierung möglich. Zusammen mit Hans Thill hat Braun im Heidelberger Wunderhorn-Verlag eine Anthologie herausgegeben: "Das verlorene Alphabet. Deutschsprachige Lyrik der neunziger Jahre". Neben Gedichten von alten Weggefährten (Michael Buselmeier, Hans Arnfrid Astel) werden große Namen mit poetischen Gefälligkeitsadressen verknüpft: Jürgen Becker, Elisabeth Borchers, Hans Magnus Enzensberger, Walter Helmut Fritz, Ludwig Harig, Harald Hartung, Rolf Haufs, Günter Herburger, Sarah Kirsch, Wulf Kirsten, Michael Krüger, Johannes Kühn, Reiner Kunze oder Rainer Malkowski. Neue Autoren hat das wenig entdeckungsfreudige Duo Braun/Thill auch in der jüngeren Generation nicht aufzubieten. Einige etablierte Vertreter wie Marcel Beyer, Franz Josef Czernin oder Thomas Kling wurden - immerhin - in die Auswahl eingerückt. Die ungewöhnlich vitale, im Literaturbetrieb jedoch einflußlose Poetry-Slam-Szene - ein Beispiel für viele - bleibt außen vor.

Rein statistisch scheint jedoch die Hoffnung nicht unbegründet, daß eine neue Autoren- und eine neue Kritikergeneration auf den Plan tritt und die großen Entwicklungslinien und Zukunftschancen der Lyrik aufnimmt. Gerade die lyriktypische Wort- und Textkompression, die Verdichtung eben, erweist sich als Passe-par-tout im Zeitalter der Digitalisierung, des mobilen Zugriffs auf global vernetzte Datenbanken. Sie wird uns die Codierungen der Nachrichten- und Informationskanäle, der Bild-, Ton- und Filmarchive sprachlich erschließen und gedanklich strukturieren helfen.

Für eine solche Herkulesarbeit aber sind Autoren ungeeignet, die sich als Bewohner des Elfenbeinturms inszenieren. Wer eine solche Aufgabe bewerkstelligen will, muß mit seiner Zeit und ihren technischen Bedingungen, ihren Chancen und Gefahren, vor allem auch ihren Möglichkeiten vertraut sein. Das literarische Internet-Tagebuch "Abfall für alle" von Rainald Goetz (bislang unter www.rainaldgoetz.de aufrufbar, im Herbst 1999 als Buch im Suhrkamp Verlag) ist ein Projekt, das die technischen Möglichkeiten seiner Zeit auch poetisch innovativ nutzt. Während Goetz schreibt, laufen offenbar auch Radio- und Fernsehapparate. Informationen aus diesen Medien fließen in den entstehenden Text ein, verändern ihn, schreiben ihn fort. Das Ergebnis sind ungewöhnlich verdichtete Texte, lyrisch, bizarr, unheimlich wirklich. Die Stellungnahme Jan Philipp Reemtsmas zur Festnahme seines Entführers Drach in Argentinien lautet bei Goetz: "ich freue mich sehr / ich beglückwünsche / die Polizei zu ihrem Erfolg / ich danke allen / die daran beteiligt gewesen sind / [...] ... ich werde es / bei dem guten Brauch / belassen [...]." Am "Samstag, 9.1.99" trägt er in sein Tagebuch ein: "Es klingelt. // -Sie wünschen? / -Schönengutentag, siaufmachn? / -Warum? / -Ich Werbung, Sie aufmachen!"

Rainald Goetz stellt sich den Medien, setzt sich mit ihnen auseinander, benutzt sie als Co-Autoren und schickt seine "intim-öffentlichen" Tagebucheinträge elektronisch um den Globus; wie selbstverständlich überschreitet er geographische Grenzen, aber auch die Grenzen zwischen Prosa und Lyrik.

Auch andere Formen sind neu mit Leben zu erfüllen: Collage, Demontage und Remontage, der Einsatz semantischer Ambiguität, die Fiktionalisierung von O-Tönen, Cut-up- und Sampling-Verfahren und dergleichen mehr müssen in ihrer Eignung als poetische Mittel geprüft werden, damit sich aus neuen Formen, neuen Techniken, neuen Medien auch neue Inhalte ergeben - siehe Rainald Goetz. Die Transportmittel zur Beförderung der Wortkunst werden nicht weniger, sondern mehr. Wenn sich also Peter Hamm im zitierten Gedicht rhetorisch fragt "Was ist noch / unaussprechlich?", so schwingt darin auch mit, daß eben schon alles, was auszusprechen war, in der Menschheitsgeschichte auch irgendwie ausgesprochen, ausgedrückt und aufgeschrieben wurde. Jeder Autor recycelt auch Inhalte und Sprache im Sinne einer Wiederverwertung, der eine mit mehr, der andere mit weniger Talent. Die Themen der Poesie bleiben dieselben: Krieg, Tod, Liebe, Natur, Subjekt et cetera Es kommt auf die Verknüpfungen an, auf die Art ihrer Wiederaufbereitung und erneuten Verarbeitung.