Das Netz, mit dem man Hitler fangen kann

Zu Harry Mulischs neuem Roman "Siegfried"

Von Matthias PrangelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Prangel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf der einen Seite Ian Kershaws monumentale zweibändige, 2000 Seiten dicke, empirisch-historisch bestens abgesicherte, akribische Hitler-Biographie, auf der anderen Seite Harry Mulischs gerade mal 185 Seiten dünner Romantext "Siegfried. Eine schwarze Idylle". In diesen beiden könnte man die extremen Außenbegrenzungen dessen sehen, was die jüngste Zeit zum Thema Hitler hervorgebracht hat. Nun wissen wir zwar längst, dass solche Polarisierung von Geschichtsschreibung und literarischer Fiktion genau genommen nicht haltbar ist, die Fiktion nicht nur der Phantasie freien Lauf lässt, sondern sehr wohl es auch mit empirisch Überprüfbarem zu tun hat, die Geschichtsschreibung umgekehrt, bei aller empirischen Verankerung, dem Moment phantasiegesteuerter narrativer Deutung, Interpretation, Konstruktion nicht zu entrinnen vermag. Unter dem solchermaßen beide überwölbenden Dach einer konstruktivistischen Weltverarbeitung darf der Gegensatz jedoch als ein zumindest relativer aufrechterhalten werden.

Was alle historische, politologische, soziologische, medizinische oder psychologische Forschung in tausenden von Publikationen während eines guten halben Jahrhunderts nicht fertiggebracht hat, nämlich die Lüftung des Rätsels des Menschen Hitler, das schicken sich Mulisch und sein Alter Ego im Roman, Rudolf Herter, nun an, "gleichsam in einem Gedankenexperiment - nein, besser: Phantasieexperiment" zu leisten. Die Konfrontation Hitlers mit "fingierten extremen Situationen", so gibt der bezeichnenderweise bereits weltberühmte und viel geehrte 72jährige Amsterdamer Schriftsteller Herter (Opus Magnum: "Die Erfindung der Liebe" in schlüssiger Analogie zu Mulischs "Die Entdeckung des Himmels") während eines Interviews anlässlich einer pompösen Werklesung in der Wiener Nationalbibliothek von sich, sei als Möglichkeit zur Lösung des Rätsels aufzugreifen. Die Phantasie der literarischen Fiktion als "das Netz, mit dem man ihn [Hitler] fangen kann", Fiktion nicht als das zu Deutende, sondern als Erkenntnismittel sui generis.

Nicht, dass das so umwerfend neu wäre. Im Gegenteil, dürfte sich doch der größte Teil der Literatur und überhaupt die Kunst der Moderne von dieser Auffassung her definieren. Und nicht umsonst deklarierte ja Friedrich Schelling die 'unmittelbare intellektuelle Anschauung' der Kunst als von aller rational-wissenschaftlichen Erkenntnis scharf abgehobene, eigenständige, ja überlegene Erkenntniskategorie. Doch selten wurde jene Maxime so nachdrücklich in der Literatur selbst thematisiert, selten zum Ausgangspunkt eines so virtuos inszenierten Verwirrspiels um Fiktion und Wirklichkeit gemacht und wohl noch nie so radikal ausgerechnet auf den Initiator des wohl schwärzesten Kapitels in der Geschichte der Menschheit angewendet wie in diesem Buch. Denn kaum hat Herter sein, wie er selbst erkennt, morbides Vorhaben enthüllt, da wird ihm jene Extremsituation, in der er Hitler sein Wesen preisgeben lassen will, auch schon als Wirklichkeitsbericht und Binnengeschichte des Romans frei Haus geliefert. Es entpuppt sich nämlich das greise Ehepaar Falk, Besucher von Herters Wiener Auftritt, als Hitlers einstiges Butlerzwiegestirn vom Berghof auf dem Obersalzberg, das knapp vor seinem irdischen Ende sich traumatische Ereignisse von der Seele redet, die in kein Geschichtsbuch eingegangen sind: dass Hitler mit Eva Braun einen Sohn Siegfried hatte; dass der, um die in den Führer verliebte Masse der deutschen Frauen nicht gegen sich einzunehmen, als Kind der Falks ausgegeben und von diesen auch erzogen wurde; dass Hitler Ulrich Falk kurz vor Kriegsende, als Gegner im eigenen Lager das Gerücht von Eva Brauns und damit auch Siegfrieds nicht rein arischer Abstammung zu lancieren versuchten, den nicht hinterfragbaren Befehl zur Tötung des eigenen Sohns erteilte; dass es für Falk keine Möglichkeit außer der Aufopferung des eigenen Lebens gab, sich jenem Befehl zu entziehen; dass er Siegfried in einem fingierten Unfall endlich tatsächlich erschoss. Dies alles spinnen die Falks zum steigenden Entsetzen Herters als szenisch durchsetzten Erlebnisbericht aus sich heraus, der sich teilweise verselbstständigt, doch immer wieder in die Gesprächssituation mit Herter zurückfindet. Am Ende bleibt ein Protagonist zurück, der erkennen muss, dass seine Phantasie unversehens von der Wirklichkeit eingeholt und überboten wurde: "Die Phantasie kann es nicht mir der Wirklichkeit aufnehmen, die Wirklichkeit schlägt die Phantasie bewusstlos und krümmt sich vor Lachen."

Doch damit nicht genug. Was für Mulisch und uns Leser pure Fiktion, ist für Herter ebenso bare, durch Zeugen belegte Wirklichkeit. Deshalb tut er, was ihm zu Beginn des Buches im Hinblick auf die erstrebte fingierte Extremsituation, die ja aus sich selbst heraus und durch sich selbst das Rätsel Hitler aufschließen sollte, ganz überflüssig erschien: er beginnt Hitler und dessen regloses Herz zu deuten, zu erklären, auf den Punkt zu bringen, nicht psychologisch, sondern als philosophisch-logisches Problem. Was dabei herauskommt, ist ein Hitler, der das mysterium tremendum ac fascinans, das er für Herter darstellt, eben dadurch sei, dass er ein Nichts war, das windstille Auge des verwüstenden Wirbelsturms, das "Schwarze Loch" im Weltall, das, was die Zahl Null unter den Zahlen ist, "von Anfang an die Materialisation des Ganz Anderen: die Personifizierung des nichtenden Nichts, die wandelnde Singularität, die notgedrungen nur als Maske sichtbar werden konnte [...] eine Maske ohne Gesicht".

Ohne ein nicht unbedingt funktionales, dafür aber um so koketteres Ausstreuen philosophischer Einsprengsel von Plato über Hegel, Schopenhauer, Marx, Nietzsche bis zu Heidegger geht es da nicht ab. Man ist dergleichen bei Mulisch gewöhnt. Doch für Unruhe und Widerspruch wird mit einigem Recht vor allem diese Deutung der Person Hitlers selber sorgen.Verbannt sie diese doch wieder einmal aus dem Bereich des Menschlichen, ja des Seins überhaupt in den Zoo exotischer Metaphänomene, statt in ihr gerade die ins Menschliche eingelagerte Potenz zum Bösen zu erkennen, die es immer wieder in Permanenz zu bekämpfen gilt, wenn menschliche Zivilisation Erfolg haben soll. Es wird uns die Person Hitlers entrückt, statt sie uns als fortwirkende Bedrohung in uns anschaulich zu machen. Natürlich, wir bewegen uns auf dem Feld des Romans. Und auf dem ist es ganz legitim, das "morbide" fiktionale Experiment in extenso durchzuspielen, was Mulisch denn auch mit erheblicher Kunstfertigkeit besorgt. Doch die Theorielastigkeit der schon eher philosophisch-essayistischen Deutung des Braunauers lässt die Figur Herters immer stärker mit ihrem Urheber Mulisch, die fiktionale Aussage des einen immer mehr mit einer Sachaussage des anderen verschmelzen. Und so wird sich Mulisch fragen lassen müssen, welchen Gewinn es heutigen Menschen bringen kann, Hitler nicht als Menschen, sondern als Nichts zu verstehen, ihn infolgedessen auch einfach zu entsorgen und fernerhin das Schweigen über ihn zu bewahren.

Dass Harry Mulisch selber als inzwischen 74-jähriger nach einem Leben, das persönlich und literarisch im Zeichen Hitlers und des Nationalsozialismus stand, jenen selbst eingestandenen Wunsch des endlich letzten Wortes zu Hitler hegt und ihm dessen Versenkung im Nichts da gerade recht kommt, mag ja nur zu verständlich sein. Doch möchte man seiner Hitlerdeutung nicht gar zu viele Sympathisanten wünschen. Es könnte das Folgen haben, die nicht absehbar sind und von niemandem weniger gewünscht wären als von Mulisch selbst, zumal der sich im Gegensatz zu Herter, der die Erkenntnis vom Nichts Hitlers nicht überlebt, auch weiterhin auf Leben eingestellt hat. Nochmals: man wird und soll ja auch einwenden, es gehe doch bei allem nur ums Spiel mit Möglichkeiten, unmöglichen Möglichkeiten zudem, um eine Simulation nur, um Literatur und nichts als Literatur. Aber wirklich nur Literatur?

Titelbild

Harry Mulisch: Siegfried. Eine schwarze Idylle. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Gregor Seferens.
Carl Hanser Verlag, München 2001.
192 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446200908

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