In seiner ganzen Größe erfassbar

Andrej Belyjs "Petersburg" liegt erstmals in vollständiger Übersetzung vor

Von Mareile AhrndtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mareile Ahrndt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Endlich vollständig, endlich adäquat übersetzt - soeben ist ein Roman erschienen, der erstmals für deutsche Leser in seiner ganzen Bedeutung zu erfassen ist. "Petersburg" gehört zu den weltliterarischen Ereignissen, die man miterleben sollte. Die Hauptperson ist Nikolaj Ableuchow, ein Student. Er plagt sich, heiß und gekränkt liebt er eine verheiratete Frau, schmerzlich vermisst er seine Mutter, die mit einem italienischen Künstler durchgebrannt ist, wütend will er sich von seinem Vater lösen, bei dem er wohnt und mit dem er doch immer wieder in die gewohnten, wohligen Gespräche beim Mittagessen verfällt. Der alte Ableuchow ist eine lächerlich-wunderbare Erfindung des Zarismus: "Kurz, er war der Chef der Behörde". Er erteilt Bescheide auf Bittgesuche. Bei ihm herrscht nicht nur Ordnung, sondern ein ganzes Ordnungssystem.

Grotesk geht es zu in "Petersburg", und der Leser darf in diesem Monument von Stadtroman umherlaufen und sich an der genau richtigen Dosis Parodie erfreuen. Nicht zu allen Zeiten war das möglich, denn Nikolaj Ableuchow wendet sich gesellschaftsfeindlichen, für ihn eigentlich scheußlich-ungehobelten Kreisen zu; ein Versuch, dem Vater die Stirn zu bieten. Und er bekommt prompt den Auftrag, den Alten umzubringen.

Die Revolution als Vaterkomplex? Unter dem Zaren wollte keiner von Revolution sprechen oder hören, unter den Bolschewiken keiner von schnöden Generationskonflikten. Erst 1981 durfte der Roman in Russland verlegt werden. Geschrieben hat Andrej Belyj ihn in den Jahren 1911 bis 1913. Belyj war ein Mann von großer geistiger Unabhängigkeit; realpolitisch ohne Ambitionen war er ein eingefleischter Moskauer aus elitärem Hause, ein unter Gleichen geschätzter Dichter, doch vom Publikum angesichts seiner jede Grammatik abschüttelnden Sprachspiele verlacht. 33 Jahre alt war Belyj als "Petersburg", sein Hauptwerk, veröffentlicht wurde. Zunächst erschien es in Berlin, wo Belyj zwei Jahre verbrachte (und wo Vladimir Nabokov auf "Petersburg" stieß, das er zeit seines Lebens schätzte). Als Belyj den seitenstarken Roman wenige Jahre später für die erste deutsche Übersetzung vorbereitete und kürzte, verlor das Buch an literarischem Reichtum. Denn "Petersburg" war ein einmaliges lautmalerisches Wagnis. Belyj hat sich von Musik und meditativem Rhythmus (er war zeitweise von der Anthroposophie Rudolf Steiners begeistert) inspirieren lassen. Als er 1905 erstmals Petersburg betrat, tat er das, um die Aufführung von Wagners "Parzival" zu besuchen. Zur selben Zeit brachen in der damaligen russischen Hauptstadt blutige revolutionäre Unruhen hervor. Damals kam es für Belyj zu einem persönlichen Drama mit der Frau eines Schriftstellerkollegen, einer Frau, die er sein Leben lang begehrte, ohne dass es je zu einer festen Verbindung kam. Belyj verließ Petersburg schnell wieder, aber in ihm wuchs das Bild einer von Nebelschwaden durchzogenen Stadt mit Menschen darin, die voller verworrener Vorstellungen um ihre Existenz kämpften. So schuf Belyj Figuren wie den halluzinierenden Alkoholiker, den öligen, verschlagenen Geheimbündler, die an eine japanische Chrysantheme erinnernde Hysterikerin. Sie alle umgeben unseren jungen Nikolaj Ableuchow, und mit ihm fließen sie durch einen breiten, zügellosen Strom ihrer Gedanken und Gefühle. Doch der Dichter Belyj hat auf das genaueste komponiert; in jede Verzweigung hinein hat er an die Realität gemahnende Wegmarken gesetzt. Herrlich an dem Buch sind die Untergliederungen der Kapitel, die die Dramaturgie einer bewegenden Symphonie haben und deren Überschriften allein ein literarischer Schmaus sind. Die Dialoge, auch sie unfasslich gut nachempfunden von der Übersetzerin Gabriele Leupold, führen als Dokumente der Zerrissenheit in die Welt einer grauenhaften Unruhe, von der Belyjs Städter befallen sind. Diese Unruhe ist das Rumoren, das aus den Tiefen der menschlichen Seele nach oben dringt. Ihre Opfer flüchten sich auf die Straßen der Großstadt, um nicht in ihren Wohnungen, ihren Verliesen gefangen zu sein. Vor einigen Jahren ist in den USA eine Studie erschienen, die das literarische Phänomen des Herumstreifens in der Großstadt untersucht hat. Darin wird "Petersburg" neben "Ulysses" von James Joyce und "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin gestellt. Da gehört der Roman hin, der ein Kunstgenuss ist, wie er nur alle Jubeljahre vorkommt. Nun auch für deutsche Leser.

Titelbild

Andrej Belyj: Petersburg. Roman. Mit einem Nachwort von Ilma Rakusa.
Übersetzt aus dem Russischen von Gabriele Leupold.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
450 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 3458145796

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