Meine deutschen Wörter haben keine Kindheit
Emine Sevgi Özdamars Erzählungen "Der Hof im Spiegel"
Von Katrin Steinborn
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseKeine Sprache lernt der Mensch je wieder so selbstverständlich und mühelos wie die eigene Muttersprache. Sie beeinflusst unweigerlich sein Denken und Fühlen, gibt seinem Erleben Ausdruck, ist ihm Heimat. Der Erwerb einer Fremdsprache fordert Willensstärke und Durchhaltevermögen, ist schlicht Arbeit. Doch eine fremde Sprache kann zur zweiten Heimat werden. Für die 1946 in der Türkei geborene Kurdin Emine Sevgi Özdamar ist es die deutsche Sprache geworden. In der türkischen Sprache wurde sie nach eigenen Worten unglücklich. Denn diese kündete nach dem Militärputsch in den 60er Jahren von Tod und Leid der politisch Verfolgten. Özdamar findet Trost in ihrer Theaterarbeit, in "Brechts deutschen Wörtern". "Ich drehte meine Zunge ins Deutsche, und plötzlich war ich glücklich..."
Ihre Erzählungen spielen sich ab in den großen Städten Europas, in Düsseldorf, Paris, Berlin Ost und West, in Amsterdam und Istanbul. Özdamar ist ein "Mensch vom Weg" und erzählt von den Menschen, die ihren Weg kreuzen. Zum Beispiel vom alten Franz, einst Veteran in Russland, der mit dem ganzen Körper weinend von seinen Kriegserlebnissen berichtet. Oder vom liebeskranken, homosexuellen Herrn Volker, der über ihr wohnt. Doch wirklich nahe kommt die Autorin nur wenigen ihrer Figuren. Vielmehr schildert sie flüchtige Begegnungen, die gleichwohl tiefe Spuren hinterlassen. Oft scheinen die Grenzen zwischen Erlebtem und Erdachtem zu verwischen.
In der ersten Erzählung "Der Hof im Spiegel", die den gleichnamigen Band einleitet, sitzt die Erzählerin des Nachts im Dunkeln vor einem Spiegel in ihrer Küche. Der Spiegel ermöglicht ihr scheinbar zufällige Blicke in die hell erleuchteten Fenster der Nachbarn. Auf diese Weise nimmt sie aus der Ferne teil am täglichen Leben der Bewohner in ihrem Block. Ein System von Spiegeln in ihrer Wohnung bildet eine Art mystischen Raum, der den labyrinthischen Wohnräumen des Orients gleicht. So stellt sie eine eigenartige Nähe zu den Menschen im Spiegel her. Dadurch gelingt es ihr, die Anonymität in der deutschen Großstadt zu überbrücken. Diese Nähe geht so weit, dass sie zu ihrer Mutter in Istanbul am Telefon von den Menschen in ihrem Viertel wie von nahen Angehörigen spricht. Sie betrachtet diese mit der zärtlichen Distanz einer Liebenden, lässt ihre Mutter teilhaben an deren Schicksal, deren Leben und Sterben. Gemeinsam mit ihr beweint sie auch die Verstorbenen des Viertels. Ihrer Familie und dem Dichterfreund Can in der Türkei ist sie durch das Telefon verbunden. "Als ob die Vögel, die sich auf die Telegrafenmasten setzen, die Liebe dieser Menschen aufpicken und in ihren Mündern und mit ihren Füßen zu mir bringen könnten." Solche ausdrucksstarken Bilder zeigen, wie poetisch und verspielt Özdamar mit Sprache umzugehen vermag. Obwohl die Großmutter in Istanbul die Erzählerin in der Kindheit warnt: "Schau nicht in der Nacht in den Spiegel, sonst wirst du in ein fremdes Land gehen", übertritt sie dieses Gebot. Doch folgt darauf keine Strafe. Im Spiegel ist sie glücklich, weil sie so an mehreren Orten zugleich sein kann. In Deutschland führt sie tatsächlich ein Leben im fremden Land. Die Welt im Spiegel hat aber noch eine weitere Dimension. Im Spiegel wohnen auch die Toten. Diese Parallelwelt birgt keine Schrecken. Dort sind die Verstorbenen versammelt, wie sie zu Lebzeiten waren, und führen ihre gewohnten Tätigkeiten fort. Sie erscheinen wie Bilder einer liebevollen Erinnerung.
Neben menschlichen Begegnungen spielt in Özdamars Erzählungen die Stadt eine zentrale Rolle. Sie tragen Titel wie "Mein Istanbul" oder "Mein Berlin". Leicht gewinnt der Leser den Eindruck, Autorin und Erzählerin bildeten eine untrennbare Einheit, denn immer wieder lassen sich autobiographische Details auffinden. Die Autorin verarbeitet sehr persönliche Eindrücke, bringt dem Leser ihre eigene Sichtweise der jeweiligen Stadt nahe. Sie besitzt die Gabe einer scharfen Beobachterin, ohne je dokumentarisch zu wirken. Sie bedient sich der literarischen Collage, verbindet wirklichkeitsnahe Beschreibungen übergangslos mit freier Assoziation sowie mit Versen aus Gedichten und Liedern. Özdamar formt die deutsche Sprache nach ihren eigenen Bedürfnissen. Zusammengesetzte Wörter gliedert sie auf und führt sie auf ihre Bestandteile zurück. So verfährt sie beispielsweise mit dem Wort Gastarbeiter: "Ich liebe dieses Wort, ich sehe vor mir immer zwei Personen, eine sitzt da als Gast, und die andere arbeitet." Auf diese Weise entlockt sie den Worten ihre Ironie, die sich dem Muttersprachler entzieht.
In der deutschen Sprache wurde sie nicht nur heimisch, sondern auch überaus erfolgreich. Ihre Romane und Theaterstücke haben international Beachtung gefunden. Für ihr Romandebüt "Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus" hat sie den Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten. In ihrer Dankrede zur Verleihung des Adelbert-von-Chamisso-Preises im Jahr 1999 bekennt Özdamar: "Seit 22 Jahren habe ich in Deutschland in vielen Theatergarderoben meine deutschen Wörter liegengelassen und sie am nächsten Abend wiedergefunden. Mein Lektor Helge Malchow sagte mir einmal: "Vielleicht schreibst du in Deutsch, weil du in der deutschen Sprache glücklich geworden bist."
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