Eine Zeitreise

Hans Magnus Enzensberger philosophiert im Mantel des Jugendbuchautors

Von Julia SchmitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Schmitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sieben Zeitreisen unternimmt der 14-jährige Robert, dessen Vater ständig geschäftlich unterwegs ist und dessen Mutter lieber auf Vernissagen und zum Italienisch-Kurs geht. Wie in einem Science-Fiction-Roman fällt Robert in immer tiefere Zeitlöcher. Die ganze Reise nimmt ihren Anfang in der heimischen Küche vor dem Fernseher, wo ein Film läuft, in den Robert sich hineinimaginiert. Das Medium ist immer ein Bild, sei es ein Kinobild, eine Fotografie oder ein Gemälde. Robert versenkt sich zutiefst in dieses Bild, so dass er am Ende selbst ein Teil davon wird.

So gelangt er ins Sibirien des Jahres 1956, wo er in einer Waschküche fast erfriert; im heißen Dezember 1946 trifft er auf einer australischen Farm Caroline, seine erste Liebe; im Deutschland der dreißiger Jahre hat er eine Begegnung mit rechten Schlägern und lernt seine Großmutter kennen; dann gerät er ins Norwegen des 19. Jahrhunderts, kokettiert als Page auf einem deutschen Barockschloss und buhlt um eine Prinzessin, wird Straßenräuber und kämpft unter Elsässern im Dreißigjährigen Krieg, bis er schließlich bei einem flämischen Maler des frühen 18. Jahrhunderts in die Lehre geht.

Die Zeitreise ist gleichzeitig eine Reise in die verschiedensten Teile der Erde. Zeitwechsel bedeutet auch Wechsel des Raumes. Irgendwann stellt sich die Frage, wie Robert wieder in seine Zeit und in seine Heimat zurückgelangen kann.

Es ist jedoch nicht nur ein sinnloses Hin- und Herhüpfen in Zeit und Raum. Robert ist nicht nur der verlorene Sohn, der am Ende wieder heimkehrt, er ist auch Abenteurer, Ausreißer. Die Erfahrungen, die er macht, geben ihm Einblick in verschiedenste historische Situationen, die dem Leser auf sehr anschauliche Weise nahe gebracht werden. Die detailgenaue Beschreibung macht die Momente lebendig, lässt die erstarrte Geschichte, die uns sonst nur grau aus den verstaubten Geschichtsbüchern entgegengähnt, aufleben.

Wie ein Narr, dessen Weisheit erst hundert Jahre später erkannt wird, wirkt Robert mit seinem Spielzeugauto im Dreißigjährigen Krieg. Verlacht und verschrien wird er, wie einst Galilei. Robert ist Suchender, doch wonach sucht er? Nur das Abenteuer? Der Roman liest sich als solches, aber gleichzeitig schwingt auch die tiefere Frage nach der Bedeutung von Zeit mit. Leicht und gelöst erzählt, nicht zuletzt auch mit Spannung verpackt der Büchner-Preisträger Hans Magnus Enzensberger eine der großen philosophischen Fragen.

Der eher durch zeitkritische Lyrik und ebensolche Essays bekannt gewordene Enzensberger hat nach dem "Zahlenteufel", der mit dem Jugendpreis "Luchs" ausgezeichnet wurde, erneut bewiesen, dass er auch Romane für junge Leser schreiben kann.

Allerdings lässt das Layout zu wünschen übrig. Das auf dem Cover und zu Beginn eines jeden Kapitels abgebildete Auge, das in immer andere Richtungen schaut, sieht sehr krank und abstoßend aus. Die Idee, das zentrale Organ, mit dessen Hilfe Robert seine Zeitreisen machen kann, bildlich darzustellen, ist sehr schlecht umgesetzt worden, zumal ein einzelnes Auge auch für das räumliche, somit auch zeitliche Sehen nicht ausreicht.

Titelbild

Hans Magnus Enzensberger: Wo warst du, Robert? Roman.
dtv Verlag, München 2000.
320 Seiten, 8,40 EUR.
ISBN-10: 3423620455

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