Von der deklarativen zur prozessualen Ordnung des Wissens

Michel Serres' und Nayla Faroukis "Thesaurus der exakten Wissenschaften"

Von Marc RölliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Rölli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ungewöhnlich, wenn zwei renommierte Philosophen ein Lexikon herausgeben, das die neuesten Wissensbestände der "exakten Wissenschaften" präsentiert - gemeint sind: Physik und Astrophysik, Chemie und Biochemie, Genetik, Informatik, Mathematik und Geowissenschaften. Die Mitarbeit zahlreicher profilierter FachwissenschaftlerInnen sichert dem Band ein hohes Maß an Aktualität, Präzision der Darstellung und ein raffiniertes System interdisziplinärer Verweisungen. Wenngleich Michel Serres und Nayla Farouki vor allem im Bereich der Wissenschaftsgeschichte gearbeitet haben - Serres darf als einer der bekanntesten Wissenschaftstheoretiker und -historiker der neueren französischen Philosophie gelten -, so liegt trotzdem die Vermutung nahe, dass die HerausgeberInnen mit ihrem Lexikon auch philosophische Hinterabsichten verfolgen.

Im griechischen Wort "Thesaurus", das ursprünglich das Schatzhaus in einem Heiligtum bezeichnete, wird diese Absicht greifbar, wie die Herausgeber in den vorangestellten "Hinweisen zum Gebrauch" selbst andeuten: "Mit diesem Lexikon wollten wir einen Ort schaffen, an dem die Schätze der exakten Wissenschaften zusammengetragen werden." Diese Schätze sollen nicht gehütet und versteckt, sondern von Experten der "harten" Wissenschaften aus der Überfülle von Informationen herausgehoben und in der Weise "hemmungsloser Popularisierung" dargestellt und verbreitet werden. Im ausführlichen und programmatischen Vorwort macht Serres deutlich, dass das Lexikon - quasi als Vorläufer einer nicht durch die Buchform limitierten elektronischen Datenbank, deren Ordnungsstrukturen es präfiguriert - in der Wissensgesellschaft von heute ein geeignetes Medium darstellt, die Vielfalt des Wissens allgemein zugänglich zu machen.

Die unterschiedlichen Artikel, die in erster Linie "umfassende", das heißt nicht allzu sehr fachspezifisch bestimmte Begriffe präsentieren, befriedigen nicht nur systematische, sondern ebenso sehr didaktische und historische Interessen. Sie stehen nicht zusammenhanglos nebeneinander, sondern sind prozessual aufeinander bezogen. Zu diesem Zweck weisen die einzelnen Artikel nicht nur innerhalb ihres Textes verwendete Begriffe als Stichwörter aus, sondern ausdrücklich werden zur Vertiefung und zur Vorbereitung weiterführende (sachlich relevante) Artikel empfohlen. Hinzu kommen "philosophische" Abschnitte, die durch schwarze Pfeile angezeigt sind: hier werden vor allem ethische Fragen aufgeworfen, die in den exakten Wissenschaften nicht entscheidbar sind.

Die Autoren unterwerfen sich der Maxime, so einfach und verständlich wie möglich das (ständig im Wandel begriffene) Wissen der Zeit zusammenzufassen. Dabei reagieren sie auf die "Unausgeglichenheit der Bilanz", die zwischen dem alten gesicherten "Lehrwissen" und den neueren und neuesten wissenschaftlichen Innovationen besteht. Die Ursachen dieses Ungleichgewichts liegen darin, dass sich die Wissenschaften im letzten Jahrhundert in allen Bereichen strukturell verändert haben. Mit der zunehmenden Dezentralisierung des Wissens verbindet sich die Ablösung der tradierten deklarativen Ordnung des Wissens durch eine prozessuale. "Die Erfassung der Inhalte wird abgelöst durch die Ermittlung der Adressen", so schreibt Serres dazu im Vorwort. Während das Lehrbuch eher gemäß der Logik seines Inhalts methodisch aufgebaut ist und Machtverhältnisse repräsentiert, die mit der Konzentration des Wissens an privilegierten Orten einhergehen, reflektiert die labyrinthische und alphabetische Ordnung des Lexikons das Ideal einer neuen Freiheit: surfen im Netz eines wissensgesättigten öffentlichen Raums (beziehungsweise rumblättern im Lexikon von einem Artikel zum nächsten), das die Mannigfaltigkeit der singulären Tatsachen nebeneinander bestehen lässt, ohne sie von oben herab zu reglementieren.

Wenn es richtig ist, dass gegenwärtig das "Wissen" (im Sinne der prinzipiellen Möglichkeit seiner Aneignung) nicht knapp, sondern überall reichlich vorhanden ist, so besteht die Aufgabe der Wissensvermittlung vor allem darin, die gegebenen Wissensbestände zu sortieren und greifbar zu machen. Der Thesaurus stellt auf eindrucksvolle Weise dar, wie man dieser Aufgabe gerecht werden kann. Seiner möglichst weitgehenden Verpflichtung auf die Umgangssprache als Sprache der Interdisziplinarität kommt zugute, dass die oben genannten exakten Wissenschaften mehr und mehr dazu tendieren, fachübergreifende Zusammenhänge zu thematisieren. "Einst stand die Wissenschaft in förmlichem Gegensatz zu den Erzählungen; heute übernimmt die Erkenntnis deren Form." Der Thesaurus reagiert auf diesen Wandel: in den meisten Artikeln wird zunächst ein Stück Wissenschaftsgeschichte erzählt, bevor systematische Erklärungen folgen. Deshalb richtet sich dieses Lexikon vor allem an Studenten oder Wissenschaftler, die sich in fachfremden Gebieten schnell und zuverlässig informieren wollen. Wer indessen moniert, dass die begrifflichen Stichworte der Artikel zu allgemein gewählt sind, der wird im Sachregister - das auch Begriffe enthält, die kein eigenes Stichwort abgeben - einen großen Teil des Vokabulars der modernen Naturwissenschaften ausfindig machen können.

Im Vorwort erzählt Serres die Geschichte vom Tod des Dionysios von Paris, die den "postmodernen" Übergang von der deklarativen zur prozessualen Ordnung des Wissens, vom personalen Gedächtnis zu seiner Externalisierung derb veranschaulichen soll: "In der Legenda aurea heißt es über das Martyrium des heiligen Dionysius: Als er vom Henker enthauptet worden war, beugte er sich vor, nahm seinen zu Boden gefallenen Kopf auf und hielt ihn einen Augenblick lang vor sich und den Zuschauenden in Händen. Sehen Sie es, das Subjekt, angesichts des - wenn ich so sagen darf - objektiv Kognitiven?"

Titelbild

Michel Serres / Nayla Farouki (Hg.): Thesaurus der exakten Wissenschaften.
Übersetzt aus dem Französischen von Michael und Ulrike Bischoff.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2000.
1200 Seiten, 50,60 EUR.
ISBN-10: 3861503654

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