Tod im Text

Aspekte literarischer Emotionalisierung in neueren Beiträgen zur Thanatologie

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die großen geisteswissenschaftlichen Arbeiten, die in den zwanziger Jahren von Rudolf Unger oder Walter Rehm zur Motivgeschichte des Todes vorgelegt wurden, hatten zu beschreiben versucht, was einzelne Autoren oder Epochen über den Tod gedacht haben und rückten dabei die Literatur in die Nähe der Philosophie und Religion. Der dafür bezeichnende Titel des Buches von Rehm lautet: "Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung". Themen-, problem- und motivgeschichtliche Studien, gerade auch zum Tod, erfreuen sich in der jüngeren Literaturwissenschaft erneuter Beliebtheit. Doch die Fragen, die sie sich stellen, und die Antworten, die sie darauf geben, haben sich erheblich verändert. Sie stehen seit der "Geschichte des Todes", die Philippe Ariès 1978 vorlegte, der resonanzreichen Monographie von Elisabeth Bronfen "Nur über ihre Leiche" von 1992 oder der "Ästhetik der letzten Dinge" von Christiaan L. Hart Nibbrig (1989) im Rahmen von Interessen, die der Alltags- und Mentalitätsgeschichte, kulturellen Ritualen und kollektiven Gedächtnisleistungen, der historischen Kulturanthropologie, der Poetologie und der Ästhetik gelten.

Dafür sind drei neuere, zum Teil sehr lesenswerte Dissertationen symptomatisch. Sie alle bewegen sich im Wesentlichen im 18. Jahrhundert, greifen auf barocke und noch frühere Zeiten zurück oder berücksichtigen auch die Romantik und ihr Umfeld. Methodisch und begrifflich relativ unambitioniert, doch erfreulich klar und solide befragt Uli Wunderlich etliche populäre Romane der europäischen Aufklärung mitsamt den dazugehörigen Illustrationen nach ihrem Umgang mit dem Tod, zeigt, wie sie sich durch Sakralisierungen des Profanen und Verweltlichung des Geistlichen von christlichen Bindungen lösen und ihnen dennoch verbunden bleiben. Eva Horns literatur- und kulturwissenschaftlich avancierte Arbeit, die dem kulturanthropologischen Horizont der Konstanzer Literaturwissenschaft verpflichtet ist, begreift Literatur als einen "Ort des Totengedenkens" und Trauer als eine "Arbeit der Texte". Denn Texte "erinnern und beschwören die Toten, sie feiern ihre Anrufung oder geben ihnen eine Stimme, sie klagen und sie trösten." Ihr von Freuds Begriff der "Trauerarbeit" gelenktes Interesse gilt im Blick auf Texte, vom barocken Leichengedicht bis hin zu Rückerts Kindertotenliedern, vor allem dem "Verhältnis von Tod und Sprache" sowie zugleich "von Sprache und Subjekt, das Trauer als Text entwirft." Radikaler als Wunderlich widerspricht Horn Vorstellungen von Tod und Trauer als anthropologischen, transhistorischen Konstanten. Denn: "Was Tod ist, was Text ist und was Trauer, das bestimmt sich erst im Blick auf die jeweilige Ordnung der Lebenden und der Toten, auf den Bezug und die Abgrenzung beider, die eine Kultur herstellt."

Diesem kulturanthropologischen Ansatz verbunden zeigt sich auch Stefan Kisters sprachlich überambitionierte, in ihren dekonstruktiven Manierismen schwer lesbare, doch immer wieder anregende Dissertation, die Goethes "Wahlverwandtschaften" in ihr Zentrum rückt. Sie geht den Affinitäten von Text und Grab nach. Denn beide können als Träger von kulturellem Gedächtnis begriffen werden und zugleich als Orte der Differenz und Vermittlung zwischen Leben und Tod.

Anders als die beiden anderen Arbeiten vernachlässigt die von Kister in ihrer poststrukturalistischen Orientierung an Sinnkonstruktionen und -destruktionen, dass das literarische Spiel mit dem Tod vor allem auch ein Spiel mit den starken emotionalen Bewegungen ist, die dieser in besonderem Maße hervorzurufen vermag, in der Literatur wie in der Realität: Angst, Trauer oder Mitleid, Empörung und Wut, Erleichterung und Genugtuung. Kulturwissenschaftliche Thanatologie und Emotionsforschung sind aufeinander angewiesen.

"Affekt als Text-Effekt" lautet denn auch die Überschrift, unter der Horn auf die barocke Rhetorik der Erregung und Dämpfung von Emotionen eingeht. In der Tradition der antiken Rhetorik war die Berücksichtigung der Affekte auf der Grundlage sprachlicher Techniken und psychologischen Wissens eine Selbstverständlichkeit. Der spätantike Rhetoriker Menander forderte vom Grabredner, die Zuhörer zunächst bis zu Tränen zu rühren und sodann zu trösten. Die Forderung wurde zum festen Gesetz für das im 17. und noch im frühen 18. Jahrhundert ungemein beliebte Begräbnisgedicht, das "Epicedium". Dem Klageteil hatte ein Trostteil zu folgen, und es lässt sich vermuten, dass, wie ein von Eva Horn zitierter Kenner dieses Gedichttyps formuliert, "die ästhetische Befriedigung der zeitgenössischen Leser oder Hörer eines Epicediums auf der von ihnen wahrscheinlich sehr viel stärker empfundenen Spannung von Affekterregung und Affektstillung beruht haben muß und daß im Grade dieser Spannung für sie ein Kriterium der Wertung bestanden haben mag". Dieses rhetorische Spiel mit Affekten kennzeichnet keineswegs nur das Begräbnisgedicht, sondern den literarischen Umgang mit dem Tod überhaupt, auch noch in Zeiten, in denen die antiken Lehren von der Rede- und Dichtkunst an Autorität verloren hatten.

Ein berühmter poetologischer Essay Edgar Allan Poes erklärte mit provozierendem Zynismus die Trauer des Liebenden und den Tod einer schönen Frau zu Bestandteilen seines emotional kalten poetologischen Kalküls. Der melancholischste Gegenstand sei der Tod, und zwar dann, wenn "er sich aufs innigste mit der Schönheit verbindet; der Tod einer schönen Frau ist also fraglos der dichterischste Gegenstand auf Erden - und ebenso zweifellos ist der geeignetste Mund für einen solchen Gegenstand der eines Liebenden, der die Geliebte durch den Tod verlor."

Ähnlich wie Edgar Allan Poe versuchte Kafka, glaubt man seinen eigenen Auskünften, entsprechende emotionale Effekte literarisch kalkuliert zu erzielen. In der Entstehungszeit des "Prozeß"-Romans, der mit der Hinrichtung Josef K.s endet, notierte Kafka in sein Tagebuch, dass "die guten und stark überzeugenden Stellen" seiner bisherigen Werke immer davon handeln, "daß jemand stirbt, daß es ihm sehr schwer wird, daß darin für ihn ein Unrecht und wenigstens eine Härte liegt und daß das für den Leser wenigstens meiner Meinung nach rührend wird. Für mich aber, der ich glaube auf dem Sterbebett zufrieden sein zu können, sind solche Schilderungen im geheimen ein Spiel, ich freue mich ja in dem Sterbenden zu sterben, nütze daher mit Berechnung die auf den Tod gesammelte Aufmerksamkeit des Lesers aus, bin bei klarerem Verstande als er, von dem ich annehme, daß er auf dem Sterbebett klagen wird [...]. Es ist so, wie ich der Mutter gegenüber immer über Leiden mich beklagte, die bei weitem nicht so groß waren wie die Klage glauben ließ. Gegenüber der Mutter brauchte ich allerdings nicht soviel Kunstaufwand wie gegenüber dem Leser." Das Sterben, mit entsprechendem Kunstaufwand inszeniert, sichert demnach dem Autor die affektive Aufmerksamkeit der Lesenden.

Und es leistet unter Umständen sogar noch weit mehr. Je größer der hervorgerufene Affekt, desto nachhaltiger bleibt er im Gedächtnis haften. Psychologische Gedächtnistheorien besagen, dass sich das besonders stark ins Gedächtnis einprägt, was mit starken Emotionen besetzt ist. Das kann, im Fall von traumatischen Erlebnissen, sogar pathologische Formen annehmen. Autoren, die ihre Figuren sterben lassen, gelingt es zuweilen, ihre Figuren in das kollektive Gedächtnis einer Kultur einzuprägen, sie und damit auch sich selbst gleichsam unsterblich werden zu lassen: Romeo und Julia, Tristan und Isolde, Werther, Gretchen, Gustav Aschenbach und viele viele andere.

Sowohl Poes als auch Kafkas Auskünfte über die Künstlichkeit der von ihnen kalkuliert inszenierten Affekte sind eine Provokation jener Auffassung von authentischer Erlebnisdichtung, die sich im 18. Jahrhundert zu etablieren begann und den literarischen Geschmack bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägte. Sie resultierte aus einem damals zunehmenden Unbehagen an der bloßen Rhetorik der Gefühlsvermittlung, die nicht durch eigene Gefühle in der Person des Dichtenden beglaubigt schien. Eva Horn hat die fundamentalen Unterschiede zwischen Barock und Goethe-Zeit im literarischen Umgang mit Affekten treffend formuliert: "Als Affekt unterliegt Trauer und ihre rhetorische Elaboration im Barock keinem Kriterium der Authentizität: was zählt ist, was der Text an Erregung und Tröstung leistet, und wie er es leistet. [...] Nichts läge dieser Vorstellung von Trauer als Affekt - Effekt des Textes - ferner als die goethezeitliche Idee der Homologie von Gefühl und Sprache, eines ,Seelenausdrucks'."

Mit dem 18. Jahrhundert findet die kalkulierte Emotionalisierung durch das literarische Spiel mit dem Tod jedoch nur scheinbar ihr Ende. Die große Debatte um Lessings Schrift "Wie die Alten den Tod gebildet", auf die keine der drei Dissertationen einzugehen versäumt, steht nach wie vor ganz im Zeichen emotionspsychologisch fundierter Strategien. Lessing attackierte die angsterregende Darstellung des Todes als "scheußliches Gerippe" und wandte sich gegen kirchliche Interpretationen des Todes als Strafe. Antike Bildtraditionen, die den Tod als "Zwillingsbruder des Schlafes" darstellen oder als geflügelten Jüngling mit gesenkter Fackel, erscheinen ihm humaner. Dieses "Konzept einer 'Entschrecklichung' des Todes", wie es Kister formuliert, war weniger an einer kunsthistorischen Wahrheit interessiert als an den emotionalen Effekten des künstlerischen und kulturellen Umgangs mit dem Tod. Als abschreckende Strafe fungierte der literarisch inszenierte Tod im Übrigen, wie Uli Wunderlich vielfach belegen kann, in den Romanen des 18. Jahrhunderts nach wie vor. Die Todesarten, die Autoren für die Verfehlungen ihrer Figuren vorsahen, erinnern vielfach an eine Bestrafungspraxis, die für unterschiedlich schwere Verbrechen eine differenzierte Abstufung von Todesqualen vorsah.

Der Tod ist "der Sünde Sold". Hier liegt die religiöse Fundierung des Todes als Strafe, die von Literatur in Form der "Poetischen Gerechtigkeit" vollzogen wird. Sie hält ein so differenziertes Register von Todesarten bereit, dass man als Leser und als Literaturwissenschaftler genau darauf achten muss, in welchem Alter und wie gestorben wird. Und man muss wissen, was bestimmte Todesarten im kulturellen Umfeld der Textentstehung bedeuten. So galt der plötzliche, unvorbereitete Tod noch weit ins 19. Jahrhundert hinein als besonderes Unglück, später eher als Segen. Autoren lassen ihre Figuren vielfach so sterben, wie sie es ihrer Perspektive nach verdienen. Vorbildliche Charaktere entschlafen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wenn sie denn im Text überhaupt sterben müssen, ruhig in Erwartung himmlischer Freuden, Bösewichter gehen jämmerlich zugrunde.

An zwei Erfolgsromanen des 18. Jahrhunderts, Johann Gottfried Schnabels "Wunderlichen FATA", bekannter unter dem Titel "Die Insel Felsenburg", und in Samuel Richardsons "Clarissa" kann Wunderlich dieses Verfahren besonders anschaulich belegen. Schnabel lässt seine Figuren massenhaft sterben, allein in den ersten drei Bänden etwa dreihundert, und die meisten vorzeitig und ziemlich abschreckend. Das ist die Konsequenz der sittenlosen Welt, an der sie teilhaben. In der idealen Welt auf der Insel Felsenburg hingegen lässt der Autor seine Figuren kaum noch sterben und wenn, dann in hohem Alter. Richardsons unschuldige Clarissa stirbt den Tod einer Heiligen. Ihr Liebhaber und Vergewaltiger wird fast wahnsinnig und stirbt im Duell. Sein Freund und Helfer stirbt aus verzweifelter Reue über die eigene Schandtat einen qualvollen Tod.

Erschreckend ist dies für den Leser allerdings wohl nur in Grenzen. Worin die paradoxe Lust bei der ständigen Konfrontation des Lesenden mit dem Tod in diesem und in allen anderen Texten besteht, ohne die keiner sie lesen würde, ist eine Frage, die in den gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu dem Thema selten gestellt wird. Im 18. Jahrhundert hatte Schiller sie in seinen Überlegungen zum "Vergnügen an tragischen Gegenständen" im Blick. Literaturwissenschaftliche Thanatologie hat sie noch heute aus den Augen verloren.

Titelbild

Uli Wunderlich: Sarg und Hochzeitsbett so nahe verwandt. Todesbilder in Romanen der Aufklärung.
Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 1998.
301 Seiten, 26,60 EUR.
ISBN-10: 3861101777

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Eva Horn: Trauer schreiben. Die Toten im Kontext der Goethezeit.
Wilhelm Fink Verlag, München 1998.
266 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3770533143

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Stefan Kister: Text als Grab. Sepulkrales Gedenken in der deutschen Literatur um 1800.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2001.
250 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3895283290

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