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Das aktuelle Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts und die Irrationalität des Holocaust

Von Nils MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das "Jahrbuch 2001 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust" des 1995 geschaffenen Frankfurter Instituts hat jenes Ereignis zum Thema, dem es seinen Namen verdankt. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hatte den "Komplex Auschwitz", mehrere Ermittlungsverfahren durch die neu geschaffene Zentrale Ermittlungsstelle zur Ahndung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg an das Landgericht Frankfurt geholt, wo von 1963 bis 1965 die Hauptverhandlung des Frankfurter Auschwitz-Prozesses stattfand. Gegen 20 Personen wurde Anklage erhoben - SS-Offiziere, Mitglieder der Lager-Gestapo, Aufseher und medizinisches Personal. Das Verfahren wurde wie kein zweites gegen NS-Unrecht vor einem bundesdeutschen Gericht von öffentlichem Interesse begleitet. Nicht nur der spektakuläre Ortstermin in Auschwitz - welcher ohne diplomatische Hilfe der Bundesregierung organisiert werden musste, wie Sybille Steinbacher berichtet - erregte Aufsehen. In- und ausländische Presse berichtete ausführlich über den Gang der Verhandlungen. Die im Gerichtssaal eröffneten Gräueltaten sorgten für reißerische Schlagzeilen und berührten die Leser aufs heftigste.

Der vorliegende Band soll nicht nur Auskunft geben über das Prozessgeschehen selbst, sondern auch dessen Widerhall in Presse und Literatur dokumentieren - Vergleiche mit Kriegsverbrecherprozessen in Israel und Australien sowie dem Fall Irving versus Lipstat sind in lockerem Verbund angefügt. Der vage Umriss eines verbindenden Themas vermag allerdings nur begrenzt die thematisch und konzeptuell, auch in ihrem Informationsgehalt sehr verschiedenen Beiträge zusammenzufassen - der ohnehin nur halbherzig vorgegebene "rote Faden" verliert sich schnell. Die größte thematische Geschlossenheit verbindet dabei noch die Beiträge des ersten Teiles zum Prozess selbst.

Die juristische Auseinandersetzung wurde bald an den zwei wortmächtigsten Kombattanten festgemacht. Prominentester unter den Verteidigern war der von Christian Dircks vorgestellte Hans Laternser. Dieser hatte bereits als Verteidiger vor dem Nürnberger Militärtribunal eine Verteidigungsstrategie entwickelt, die sich mit einigem Erfolg "auf die Rechtsprechung der westdeutschen Gerichte berufen [konnte], die nicht auf Grundlage des in Nürnberg geschaffenen Tatbestandes 'crime against humanity', sondern des Mordparagraphen aus dem Jahr 1871 judizierten. Dessen Tatbestandsmerkmale zielen auf jene 'traditionellen' Verbrechen, die Einzelpersonen im Widerspruch zur gesellschaftlichen Norm begangen hatten. Schon aus rechtsdogmatischer Sicht erwies sich der Mordparagraph somit als unzureichend für die spezifischen 'Straftaten im Rahmen organisatorischer Machtapparate'." Der "Versuch eines rechtsstaatlichen Umgangs mit Auschwitz" war also erschwert durch das Fehlen eines direkten Widerspruches der zu ahndenden Tatbestände zur gesellschaftlichen Norm. Laternser berief sich folglich auf die für seine Mandanten sehr viel günstigere Konstruktion der Beihilfe. Prozessbeobachter nahmen das paradoxe Ergebnis durchaus wahr: "Je größer die Anzahl der Morde im Rahmen des staatlichen Befehlssystems, desto milder die daraus erfolgenden Strafen".

Annette Rosskopf portraitiert die schillerndste Gestalt der Gegenseite, den DDR-"Staranwalt" Friedrich Karl Kraul. Dank einiger in der DDR lebenden Opfer konnte er in Frankfurt als Vertreter der Nebenklage auftreten, wobei ihm klare Instruktionen mit auf den Weg gegeben worden waren. Die Strafverfahren gegen ehemalige NS-Täter boten der DDR-Führung die Möglichkeit, die leicht aufzuzeigenden Versäumnisse der westdeutschen Justiz im Umgang mit der NS-Vergangenheit medienwirksam der "vermeintlich konsequenten Vergangenheitspolitik der SED gegenüberzustellen. Zum einen hatte sich die westdeutsche Justiz bereits frühzeitig auf eine juristische Bewertung von NS-Taten festgelegt, deren Widersprüchlichkeit auch in einer einem juristischen Laien verständlichen Weise aufgezeigt werden konnte. [...] Zum andern vollzog sich die strafrechtliche Aufklärung und Ahndung von nationalsozialistischen Verbrechen in der Bundesrepublik unter gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Zweifel am Verfolgungseifer der Strafverfolgungsbehörden aufkommen ließen." Geschätzt wurden in der Bundesrepublik der 60er Jahre noch immer die "Mythen der Totalitarismustheorie, nach der eine kleine Clique mit Hitler an der Spitze die alleinige Verantwortung für die Massenverbrechen trage". Die Mehrzahl der NS-Prozesse, wie der zeitgleich in Düsseldorf stattfindende gegen SS-Männer aus Treblinka, erfuhren jedenfalls kaum Beachtung in der Öffentlichkeit. Der Artikel Marc von Miquels über die öffentliche Rezeption des Prozesses verdeutlicht den Eindruck, dass die ständige Aufdeckungen neuer Untaten im Lager-"Alltag" eher Unbehagen hervorriefen, und kaum den Wunsch nach weiterer Verfolgung bisher unbehelligter NS-Verbrecher schürten. Für Laternser wird festgestellt, er leihe einer "in breiten Bevölkerungsschichten präsenten Schlussstrichmentalität Gesicht und Stimme".

Handelte die Öffentlichkeit im Reflex einer sich in ihrem Selbstverständnis gefährdet sehenden Gemeinschaft? "Wenn die vor Gericht gestellten Täter weniger Außenseiter als typische Repräsentanten der deutschen Gesellschaft in der NS-Zeit waren, hieß dies im Umkehrschluss, dass die Mehrheit der seinerzeit Erwachsenen - unter den Bedingungen einer radikalen biologistischen Eroberungspolitik und vollständiger moralischer Abstumpfung - zumindest die Disposition für solche Morde besaß." Die beiden von Anklage respektive Verteidigung deklarierten Extrempositionen für eine Bewertung der persönlichen Schuld bargen ein großes Potential der Polemisierung: Man gebe entweder die Schuld einzig einer kleinen Führungsclique um Hitler oder nehme ein gesamtes Volk in "Sippenhaft". Unnötig nachzuweisen, dass weder die Polemik im Gerichtssaal, noch die Zuspitzung durch die Medien einer öffentlichen Reflexion über diesen Generalverdacht zuträglich waren.

Ein weiterer Effekt der Prozessberichterstattung war die Dämonisierung und Entfremdung der Täter. In Martin Walsers Worten: "Mit diesen Geschehnissen, das wissen wir gewiss, mit diesen Scheußlichkeiten haben wir nichts zu tun. Diese Gemeinheiten sind nicht teilbar. In diesem Prozess ist nicht von uns die Rede... Ich verspüre meinen Anteil an Auschwitz nicht, das ist ganz sicher. Also dort, wo das Schamgefühl sich regen, wo Gewissen sich melden müsste, bin ich nicht betroffen." Stephan Braeses Zusammenschau literarischer Reaktionen auf den Prozess zufolge waren Taten und Täter auch für den Literaturbetrieb nicht fassbar. Fritz Bauer hatte den Stab übergeben und die Dichter aufgefordert, auszusprechen, "was der Prozess auszusprechen nicht imstande ist." Diese seien ihre Rechenschaft aber schuldig geblieben; hätten sich "murmelnd vertagt". Reich-Ranickis Ausspruch, "bei dem Wort 'Auschwitz' [gebe] es keine musikalischen Assoziationen", scheint in die Verhältnisse der Dichtkunst übertragbar. Auch den Werkzeugen der Kunst bleibt das Sujet fremd und nicht greifbar. Einer der zu Zeitzeugen gewordenen Prozesszeugen, deren Erinnerungen Alice von Plato aufzeichnet, formuliert vielleicht erstaunlich genau die Ursache von Verwirrung und Unverständnis, welche die Verhandlung begleiteten. Er staunte, als er das erste Mal den Gerichtsaal betrat: "Ich hatte vor die Augen immer diese SS. [...] Dort waren normale Menschen, die wir sehen jeden Tag auf der Straße, ich gucke, ich gucke, ich konnte das nicht mehr verstehen."

Irrationalität zieht sich in der Manier eines literarischen Leitmotivs durch die Beiträge. Der Leser wird selbst Zeuge eines Stückes Rezeptionsgeschichte, das dem in Frankfurt verhandelten, meist jedoch nur in verschwommenen Konturen dargestellten Grauen vielleicht ein wenig näher liegt als die Produkte der Geschichts-, Literatur- und Sozialforschung. Irrationalität entpuppt sich in der Rückschau gar als konstitutives Element der nationalsozialistischen Gesellschaft, nicht nur seiner Aufarbeitung. Timothy Boyd schließt den Kreis mit Betrachtungen zu Horst Krügers Roman "Das zerbrochene Haus" - entstanden unter direktem Eindruck des Prozesses. Das Phänomen der Irrationalität wird dort bereits für den Ausgangspunkt des angenommenen kausalen Zusammenhangs von Machtergreifung und Auschwitz-Prozess konstatiert: "Ich entdeckte, was mir zuvor selber nicht so bewusst war, das Phänomen des unpolitischen deutschen Kleinbürgertums, das in seiner sozialen Unsicherheit, in seiner Labilität und Bedürftigkeit nach Irrationalismen das fruchtbare Vorfeld für die innere Machtergreifung des Nationalsozialismus in Deutschland abgab."

Titelbild

Fritz Bauer Institut (Hg.): "Gerichtstag halten über uns selbst...". Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses. Jahrbuch 2001.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
356 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3593367211

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