Musik und Politik

Esteban Buch über Beethovens Neunte Sinfonie

Von Kyung-Boon LeeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kyung-Boon Lee

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Viele Musikwissenschaftler haben bereits beobachtet, dass man Beethovens Musik mit einer rein musikalischen, ästhetischen Anschauung nicht erfassen kann. Hans Heinrich Eggebrecht, einer der bedeutendsten deutschen Musikforscher des 20. Jahrhunderts, kommt zu der Beobachtung, dass in der vielfältigen Beethoven-Rezeption Begriffe wie Leiden, Wille und Überwinden immer wieder erscheinen und auch in Beethovens eigenen Äußerungen in Briefen und Aufzeichungen ihre Entsprechungen finden.

Während sich Eggebrecht mit seiner These, dass die durch solche Begriffe gekennzeichnete Vorstellungswelt die Musik Beethovens erfasst habe, auf die biographische Ebene beschränkt, untersucht Esteban Buch in seiner Studie "Beethovens Neunte" das Verhältnis von Musik und Politik: Anhand der widerspruchsvollen, vielfach gegensätzlichen politischen Rezeption des Werks versucht der Autor zu zeigen, dass die "Neunte" nicht nur als Musikwerk, sondern auch als Medium politischer Symbolik aufzufassen ist.

Um dies zu veranschaulichen, beschreibt er vor allem die politische Rezeption der "Ode an die Freude" von ihrer Entstehung über die Gründerzeit und die Naziherrschaft bis zum Mauerfall (Zweiter Teil). Seine Forschung reicht jedoch auch auf die Entstehung der modernen Staatsmusik zurück, die mit dem "God Save the King" und der "Marseillaise" im 18. Jahrhundert begründet und deren Tradition durch Joseph Haydns "Kaiserhymne" und Beethovens mit Metternich in Verbindung gesetzte Kantate "Der glorreiche Augenblick" befestigt wird (Erster Teil). Die 9. Sinfonie, mit deren Komposition es Beethoven gelungen ist, in "monumentalen Dimensionen zu träumen", als "das Werk, das am stärksten zum besonderen öffentlichen Status" des Komponisten beigetragen hat, steht genau in dieser Tradition der Staatsmusik.

Obwohl alle, die sich auf die "Neunte" berufen haben, zunächst vom Erlebnis ihrer Schönheit ausgegangen sind, haben sie unendlich viele verschiedene Gründe für die Freude herausgehört: In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts z. B. war sie für Anatoli Lunatscharski, den literarisch gebildeten Volkskommissar für das Bildungswesen in der Sowjetunion, "ein Vorbild für die sozialistische Revolution". Für die Amerikaner galt Beethoven als "ein echter Demokrat", während der deutsche konservative Wissenschaftler Adolf Sandberger den Komponisten "zur Festung, die kein Versailler Vertrag zu zerstören vermag", erklärte. Am heikelsten und widerspruchsvollsten zeigt sich die Rezeption während des Dritten Reichs: Während Beethoven durch die Musikpolitiker des deutschen Faschismus zum musikalischen Vorbild erhoben wurde, sahen die Nazigegner in ihr "immer einen Ausdruck ihrer Freiheitsidee". Auch der jüdische Kinderchor in Auschwitz sang vor seiner Ermordung in der Gaskammer die "Ode an die Freude". Was hinter dieser Wahl des Liedes steckt, ist nicht leicht ersichtlich; "die Frage nach der Ambivalenz der Musik ist immer beunruhigend und die nach dem ,Beethoven in Auschwitz' ist, gelinde gesagt, grauenerregend".

So geht es dem Autor weniger darum, ob Merkmale der Sinfonie die Ursache der unterschiedlichen Rezeption sind, als um die Frage, was amoralische Menschen wie die Nationalsozialisten dazu bringt, ebenso wie andere Rezipienten für ihr ästhetisches Erleben moralische Gültigkeit zu beanspruchen. Buch antwortet, dass ein solcher moralischer Wert nicht allein auf die Tonsprache Beethovens zurückzuführen ist, denn die Tonsprache sei "entweder amoralisch, oder sie bringt einen Moralbegriff zum Ausdruck, der die Tyrannen mit einbezieht". So konstatiert er auch, dass das Loblied auf die Menschheit der nationalsozialistischen Ideologie in keiner Weise widersprach, da alle "Untermenschen" ausgeklammert waren.

Zwar hebt der Autor hervor, dass Beethoven auch nach 1945 noch als Zeuge politischer Moralität angerufen wurde, etwa gegen den Vietnam-Krieg oder beim Fall der Berliner Mauer. Andererseits konstatiert er, dass Beethoven für zeitgenössische Komponisten eher eine "Ikone der Massenkultur" als eine Quelle künstlerischen Erlebens darstellt, und er lehnt sich an Andy Warhols Behauptung an, dass Beethoven heute in gewisser Hinsicht mehr Ähnlichkeit mit Marilyn Monroe als mit John Cage habe. So erscheint die 9. Sinfonie, das "erste Musiksymbol, das einen moralischen Wert der Kunst verkörpert", als "Überbleibsel aus einer stets fernen Welt".

Zwar sind manche Unklarheiten und sprachliche Ungeschicklichkeiten im Text nicht zu übersehen, die vielleicht auf die Übersetzung von Silke Haas zurückzuführen sind. Doch ändert dies nichts daran, dass dieses zwei Jahrhunderte abendländischer Musikgeschichte umfassende Buch dem Leser eine Fülle von Details über das Verhältnis von Musik und Gesellschaft mitteilt, die in der Musikgeschichtsschreibung selten zu finden sind.

Titelbild

Esteban Buch: Beethovens Neunte. Eine Biographie.
Übersetzt aus dem Französischen von Silke Haas.
Propyläen Verlag (Ullstein), Berlin 2000.
384 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 354905968X

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