Die Biographie des Biographen
Zu Antonia S. Byatts Roman "Das Geheimnis des Biographen"
Von Julia Schöll
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas biographische Schreiben ist eine Wissenschaft für sich. Es erfordert nicht nur Stunden des Forschens in Archiven, Nachlässen und Bibliotheken sowie umfangreiches Reisen "auf den Spuren von...", sondern es bedeutet auch ein ständiges Abwägen zwischen Faktizität und Fiktion, ein Hinter-die-Texte-Sehen, ein Zwischen-den-Zeilen-Lesen, um dort die Wahrheit hinter der Dichtung zu finden. Denn der zu Biographierende ist nicht in jedem Fall bereit, sein Geheimnis freiwillig preiszugeben. Er erfindet sein Leben und führt den Forscher auf´s Glatteis. Ganz anders sieht es jedoch aus, wenn der Biograph gar nicht an den nackten Tatsachen interessiert ist, sondern das erdichtete Leben des Biographierten seinerseits noch ausschmückt und geheimnisvoll verhüllt. Oder wenn er gar sein eigenes Geheimnis hat.
In Antonia S. Byatts neuem Roman "Das Geheimnis des Biographen" haben wir es mit einer Sonderform des biographischen Problems zu tun: der Biographie eines Biographen. Das erzählende Ich, Phineas Gilbert Nanson, Doktorand der Literaturwissenschaft und gequältes Opfer dekonstruktivistischer postmoderner Literaturtheorie, beschließt eines Tages, sein Leben zu ändern. Er hat genug vom theoretischen Dasein, er sehnt sich nach "Dingen", nach Fakten, nach der Welt. Der Hinweis eines Professors seiner Fakultät scheint ihm das Erhoffte zu eröffnen: "Die Kunst der Biographie ist eine verachtete Kunst, weil sie eine Kunst der Dinge ist, der Fakten, zusammengefügter Fakten." Diese verachtete Kunst gilt es zu rehabilitieren. Nanson beginnt sein neues Leben jenseits der Theorien mit der Lektüre der dreibändigen Biographie des viktorianischen Politikers, Naturforschers und professionellen Reisenden Sir Elmer Bole, verfasst in den 50er und 60er Jahren von Scholes Destry-Scholes. Das Buch nimmt ihn gefangen, doch verlagert sich sein Interesse im Verlauf der Lektüre mehr und mehr vom Gegenstand der Biographie auf den Biographen selbst. Destry-Scholes ist einer der Biographen, die ein eigenes Geheimnis zu haben scheinen, verliert sich doch die Spur seines ( weitgehend unbekannten ( Lebens in den Tiefen des sagenumwobenen Malstroms nahe der Lofoten, wo er ertrunken sein soll. Der junge Held macht sich auf, das Geheimnis dieses Biographen zu lüften, doch die Hinweise sind eher kläglich: ein Konvolut aus ungeordneten biographischen Notizen und eine junge ( und verwirrend hübsche ( Nichte, die den Nachlass des Biographen in Form eines vor allem mit Zetteln und Glasmurmeln gefüllten Koffers hütet. Perfekter Ausgangspunkt für eine intellektuelle "Detektivarbeit" à la Byatt.
Im Verlauf seiner Recherche kommt Nanson der Verdacht, der Biograph habe bewusst seine Spuren verwischt, um seinen Nachfolger in die Irre zu führen. So ergeben zum Beispiel die biographischen Notizen Destry-Scholes auf den ersten Blick keinen Zusammenhang, beziehen sie sich doch auf drei Personen, die, äußerlich betrachtet, nichts miteinander zu tun haben: den schwedischen Naturforscher Carl von Linné, der die botanische Systematik verbindlich regelte, den britischen Begründer der Eugenik, Sir Francis Galton und den norwegischen Dramatiker Henrik Ibsen, dessen "Peer Gynt" leitmotivisch durch Destry-Scholes Notizen geistert. Was, so die Frage, verbindet diese drei Figuren? Und was hat das Werk dieser drei Männer mit Destry-Scholes zu tun und dessen Sammlung von Glasmurmeln, die nach einer rätselhaften Namensliste systematisch klassifizierbar zu sein scheinen?
Die englische Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin Antonia S. Byatt betreibt auch in ihrem neuen Roman meisterhaft das Spiel der Vermischung wissenschaftlicher Fakten mit fiktiven historischen und literarischen Texten, für das sie seit ihrem Erfolgsroman "Besessen" auch beim deutschen Publikum berühmt ist. Doch auch andere Byatt'sche Motive greift "Das Geheimnis des Biographen" wieder auf: die Faszination des Orients ("Der verliebte Dschinn"), die Begeisterung für die wohlorganisierte Welt der Insekten ("Morpho Eugenia"), die Diskrepanz zwischen Naturwissenschaft und Spiritismus im viktorianischen Zeitalter ("Geisterbeschwörung") und den Dualismus von intellektueller Ideenwelt und realem Leben, den sie in "Stilleben" auf zwei Schwestern mit sehr unterschiedlichen Lebenswegen verteilte.
Anders als in "Stilleben" ist es im neuen Roman eine Figur, die den Konflikt zwischen Geist und Natur auszuhalten hat, und diese weiß nicht recht, wohin sie gehört. Zwar hat sich der junge Nanson aus der wissenschaftlichen Welt der Theorien verabschiedet, doch deren ewige Selbstreflexivität schleicht sich von hinten wieder in sein Erzählen ein, das er ständig in Frage stellt ("Meine poetischen Bilder werden besser, aber ich bin mir nicht sicher, ob der letzte Satz funktioniert"). Erst in der Person einer üppig geformten Spezialistin für Bienenbestäubung, in der sich Forschergeist und pralles Leben vereinen, scheint sich eine Synthese der Gegensätze anzudeuten. Am Ende, so viel sei verraten, wird das Geheimnis des Biographen zwar nicht gelöst, doch Phineas Gilbert Nanson hat zumindest eines in der Welt der "Dinge" entdeckt ( sich selbst.
Antonia S. Byatts postmodernes Erzählen traf zuweilen der Vorwurf, es sei zu abgehoben, es entferne sich mit seiner stets reflektierenden Beobachterposition zu weit von seinen Figuren. In ihrem neuen Roman wird diese Distanz durch den Einsatz eines Ich-Erzählers reduziert, doch auch der schildert das Geschehen nicht unmittelbar, sondern stets kommentierend und mit langen Zitaten versetzt. Doch während die geistigen Seitenwege und literarischen Text-Einschübe in "Besessen" noch in den Rahmen des Erzählten eingepasst waren, so erscheinen sie im "Geheimnis des Biographen" oft als gelehrter Selbstzweck ("Wir haben alle unseren Foucault gelesen."). Das ist lesenswert, spannend und klug ( aber gelegentlich etwas zu sehr um Brillanz bemüht.