Strandlektüre für den Winter

Pierre Magnans neuer Kriminalroman mit der Glyzinie

Von Charlotte IndenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charlotte Inden

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Roman für den Strand ist er, Pierre Magnans neuer Krimi. Liest sich, wie eines jener Bücher, die wir so gerne in die Badetasche packen und zu Meeresrauschen und Möwenschreien genießen. Liest sich, wie sich ein guter Krimi eben lesen sollte: spannend und kurzweilig. Er liest sich eben so, dass wir Meer und Möwen über Mord und Totschlag nicht vergessen. Er liest sich so, dass wir vertieft das Kindergeplärr überhören, und er liest sich so, dass uns die Sandkörner zwischen den Seiten nicht stören. Am Strand erhält er Wertschätzung, später schätzen wir seinen Wert besser nicht. Denn mehr als eine Strandlektüre ist "Tod unter der Glyzinie" nicht. Aber, Ehrenwort, auch nicht weniger.

Während wir also das Meer rauschen hören, löst Kommissar Laviolette in deutscher Übersetzung seinen zweiten Fall. Eigentlich wollte er sich nur erholen in diesem kleinen Ort irgendwo in der Haute-Provence. Denn er ist nicht mehr der Jüngste, steht kurz vor der Pensionierung. Doch dann gellt während einer Freilichtaufführung ein Schrei durch die Nacht: eine junge Frau fällt aus einem alten Festungsturm. Und dieses Spektakel scheint nicht zum Stück zu gehören. Wer hatte einen Grund, Jeanne zu töten? Laviolette kann der Versuchung nicht widerstehen, dieses Rätsels Lösung zu suchen.

Unter den Zuschauern der Freilichtaufführung war auch die Dame Rogeraine, Tante der Verstorbenen. Sie wird zum Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. Denn Jeanne arbeitete als Krankenpflegerin für die gelähmte Tante. Und auch ihre Nachfolgerin stirbt durch den Sturz aus einem Fenster. Es stellt sich die Frage, welche Rolle Rogeraine spielt. Und Laviolette muss sich mit den Antworten beeilen, denn die nächste Krankenpflegerin hat sich angekündigt.

Schon an diesem Punkt der Geschichte, wenn Rogeraine hellwach in ihrem Bett liegt und jemanden durch ihr Haus schleichen hört, wenn sie allem Anschein nach ihren Mörder erwartet und plötzlich einen Schrei ähnlich dem Jeannes hören muss, dann ist dem Leser klar, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmt. Und da diese Strandlektüre zum Herbst erscheint und wir sie in den seltensten Fällen vor tatsächlicher Meereskulisse lesen werden, ist diese Szene in einer dunklen Herbstnacht gelesen dann auch wirklich gruselig.

Rogeraine und ihren Freundeskreis älterer Herrschaften umgeben die Schatten ihrer aller Vergangenheit. Doch wer was und wann verbrochen hat, bleibt im Dunkeln. Und wer es ist, der Rogeraine Böses will, ebenfalls. Dass jedoch all ihre Freunde dessen Namen wissen, Rogeraine aber ohne Gegenleistung nicht warnen wollen, zeigt Pierre Magnans erschreckendes Gespür für mögliche Abgründe menschlicher Seelen. Und dass Magnan bis zum Schluss sämtliche Fäden in der Hand behält, dass der Leser zwar weiß, fast alles ist faul im kleinen provençalischen Städchen, dass aber nicht der kleinste Lichtstrahl das Dunkel erhellt, zeigt, dass Pierre Magnan das Handwerk des Krimistrickens versteht. Er ist längst mehrfach preisgekrönt für diese Kunst.

Die Spannung steigt also, und die Charakterstudien der alten Dame Rogeraine und der Ihren sind fesselnd in ihrer Genauigkeit. Möglich, dass der 80-jährige Magnan für sie ein besonderes Verständnis besitzt. Und auch für den inzwischen pensionierten, an bösem Raucherhusten und Kurzatmigkeit leidenden Kommissar. Laviolette bleibt als Einziger schwach umrissen in diesem Roman. Er scheint eine eigenwillige Persönlichkeit zu sein, arbeitet mit Intuition und gegen die Vorschriften. Fremd bleibt er dem Leser, als er einmal die Fassung verliert, nichts erklärt sein Handeln. Laviolette hat kein Privatleben. Das, was Laviolette ausmacht, was Leser seines ersten Falles schon kennen, bleibt hier bloße Vermutung, die sich erst aus des Rätsels Lösung nähren kann. Denn ohne es zu ahnen, spielt Laviolette mit seiner Eigenwilligkeit dem Mörder in die Hände.

Spannend bleibt "Tod unter der Glyzinie" dann wirklich bis zum Schluss. Die besten Krimis sind doch jene, die psychologisch vorgehen, die ihre Figuren menschlich werden lassen. Magnans Protagonisten sind in ihrer Unmenschlichkeit menschlich, es wartet nicht nur ein Schock am Ende der Handlung. Sie sind aber auch menschlich in ihrer Schwäche, wie Laviolette, den wir zwar nicht vollständig verstehen, aber schließlich bedauern. Je mehr wir uns der Auflösung nähern, umso kürzer werden die einzelnen Abschnitte, immer wieder werden wir mit den Figuren und ihrem Denken konfrontiert. Und die Art und Weise, wie Magnan die Erzählstränge unterbricht, führt nicht nur einmal auf die völlig falsche Fährte.

Gut, dass der Strand fehlt, merken wir spätestens, wenn in der Provence der Schnee fällt und die Fährten und Spuren verwischt. Aber eine Strandlektüre für den Winter haben wir doch auch sehr gerne. Und besonders eine gute. Am Kamin oder mit der Wärmflasche auf dem Bauch lesen. Denn wenn schließlich und endlich Licht das Dunkel erhellt, wenn wir uns dann fragen, ob wir das wirklich hatten wissen wollen, dann folgt tatsächlich noch eine letzte überraschende Wendung. Na, und dass die dann Geschmackssache ist, das liegt vielleicht sogar in Pierre Magnans Absicht.

Titelbild

Pierre Magnan: Tod unter der Glyzinie. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Ute Bechberger und Cornelia Weinkauf.
Scherz Verlag, München 2001.
255 Seiten,
ISBN-10: 3502104336

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