Probleme mit der jüdischen Existenz

Robert Menasse erzählt zwei Lebensläufe parallel nebeneinander

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Vertreibung aus der Hölle" - der Titel des Buches mit dem Porträt des Rabbi Menasse nach dem bekannten Ölgemälde von Rembrandt auf der Umschlagseite lässt aufhorchen, und der Einfall, zwei Lebensläufe, die sich gleichen, auch wenn mehr als dreihundert Jahre zwischen ihnen liegen, parallel zu erzählen, ist fast genial. Dennoch stelle man keine allzu großen Erwartungen an das Buch. Stellenweise wirkt es überkonstruiert und hat hin und wieder ermüdende Längen. Wer sich aus der Parallelität der Biographien völlig neue und überraschende Erkenntnisse und Einsichten verspricht, wird unweigerlich enttäuscht.

Es geht um zwei jüdische Gelehrte, genauer um die reale Lebensgeschichte des Amsterdamer Rabbiner Samuel Manasseh ben Israel und um die fiktive Biographie des unverheirateten Wiener Historikers und Spinoza-Forschers, Viktor Abravanel, der, wie sich im Laufe des Romans herausstellt, allem Anschein nach, ein Nachkomme des Amsterdamer Rabbiners ist.

Zunächst werden wir Zeuge eines Trauerzugs, der sich Anfang des siebzehnten Jahrhunderts durch die Gassen des spanischen Städtchens Vila dos Começos bewegt. Zu Grabe getragen wird eine gekreuzigte Katze. Die Stimmung ist von Wut, Hass und Mordlust geprägt. Zwei Wochen zuvor war die Inquisition in Começos eingezogen. Antonia Soeira beobachtet mit ihren beiden Kindern, Estrela und dem achtjährigen Manoel, den geheimnisvollen, düsteren Vorgang mit ahnungsvollem Bangen, nicht von ungefähr, ist doch der Vater Gaspar Rodrigues vom heiligen Offizium unlängst verhaftet worden.

In der nächsten Szene lernen wir Viktor kennen. Neben den einstigen Mitschülern und Mitschülerinnen haben sich sieben ehemalige Lehrer und der Schuldirektor zum fünfundzwanzigjährigen Maturajubiläum im Restaurant vom "Goldenen Kalb" eingefunden. Aber bevor die Feier richtig losgeht, kommt es zum Eklat, als Viktor die Lehrer mit ihrer Nazivergangenheit konfrontiert und ihnen ihre NSDAP-Mitgliedsnummern vorliest. Alle verlassen empört den Raum. Nur Hildegunde, die von Viktor lange Zeit heftig, aber vergeblich umworben worden war, bleibt bei Viktor zurück. Man isst und trinkt zusammen, und dabei lässt Viktor die Vergangenheit Revue passieren. Zuletzt streifen beide mit einem Taxi wahllos durch Wien. Eine Katze spielt übrigens auch in dieser Geschichte eine kleine Rolle.

Manoel, Mané oder Samuel - das Kind hat viele Namen - kommt am 5. Dezember 1604 unter dramatischen historischen Umständen in Lissabon zur Welt, während die Inquisition in vollem Gange ist. Nicht weniger dramatisch verläuft Viktors Geburt im Jahr 1955 vor dem Schloss Belvedere während der Gründung der Österreichischen Republik. Beide, Manoel und Viktor, wachsen zunächst in einer Idylle auf, Mané in einer prosperierenden Familie, die vordergründig Respekt genießt, sich aber unauffällig zu machen sucht, da sie zu den Marranen gehört, die ihren Glauben aus Furcht vor den spanischen und portugiesischen Katholiken verbergen müssen. Lange Zeit weiß Manoel nicht, dass er Jude ist. Ähnlich ergeht es Viktor. Denn über die Nazizeit, die der Vater dank eines Kindertransports nach England überlebte, wurde in Viktors Elternhaus nie geredet.

Manoel wundert sich nur lange Zeit, dass er immer vor Sonnenuntergang zu Hause sein muss. Darauf hat sein Vater unerbittlich Wert gelegt. Warum, ahnt er nicht. Eifrig beteiligt er sich an sogenannten Schweinejagden, bei denen jüdische Familien ausspioniert wurden, um ihnen die geheime Ausübung ihres Glaubens nachzuweisen. Manoel ist sich nicht bewusst, dass er sich selbst jagt.

Auch Viktor erfährt erst spät von seiner jüdischen Herkunft, und zwar, als er in seinem Bemühen, sich Respekt zu verschaffen, seinem Mitschüler Feldstein "Saujud" an den Kopf wirft. "Merk dir", sagt ihm der Vater, "es gibt nur eine Art von Menschen, zu denen man Saujud sagen darf: nämlich zu Juden, die zu Juden Saujud sagen!" Damals erst wird ihm klar, dass er sich selbst geschlagen hat. Später, auf einer Klassenfahrt nach Rom, Ostern 1971, fragt ihn Professor Hochbichler, der ihn einmal im Religionsunterricht "Christusmörder" genannt hatte, ob seine Eltern in einer Mischehe leben würden. Viktor versteht die Frage nicht. "Mein Vater ist doch weiß, wie meine Mutter" entgegnet er und wird von Hochbichler darüber aufgeklärt, dass man auch dann von einer Mischehe spricht, wenn die Eheleute verschiedenen Religionen angehören. Hochbichler macht Viktor in Rom mit Leben und Werk von Isaak Abravanel und seinen Nachkommen vertraut. Isaak Abravanel war nicht nur einer der bedeutendsten Bibelausleger, sondern bis zu seiner Flucht 1492 aus Spanien auch Schatzmeister von König Ferdinand und Königin Isabella. Im Vatikanischen Archiv lernt Viktor die ganze Familiengeschichte Abravanels kennen. "Die Geschichte war die Hölle" sagt Viktor zu Hildegund. "Ich sah Spitzelakten und Folterprotokolle. Da wurden Menschen zerbrochen und Seelen neu zusammengesetzt", dann kam "die Vertreibung aus der Hölle". Nach der Romfahrt beschloss Viktor, Spanisch zu lernen und Geschichte zu studieren.

Mit der Unbeschwertheit der Kinder- und Jugendzeit ist es bei beiden schnell vorbei. Viktors Eltern lassen sich scheiden. Die Mutter muss nun wieder arbeiten gehen. Manoels Eltern werden vom Heiligen Offizium gefoltert und im Zeichen von "Justia et Misericordia" zum Tod verurteilt. Viktor kommt ins Internat, damit er alles dort habe, so berichtet er Hildegund, "was ich allein zu Hause nicht gehabt hätte: Essen, Lern-Aufsicht, Drill, Gewalt." Mané kommt zu den Jesuiten und lernt Regeln, die auch Viktor dreihundert Jahre später lernt. Schließlich trifft Mané seine Schwester und seine Eltern wieder, die mit knapper Not dem Scheiterhaufen entronnen sind, und flieht mit ihnen gemeinsam in das liberale Holland. Doch in seiner neuen Heimat hat Mané Anpassungsschwierigkeiten. Er ist unfähig zur inneren Verhärtung, im Gegensatz zu Viktors Vater. Als Viktor endlich vom Vater erfährt, dass er 1938 mit einem Kindertransport nach England gelangte, entdeckt er, dass das, was zum Vorschein kommt, "keine vernarbte Wunde" ist, "sondern eine versteinerte Wunde." Nach dem Tod der Mutter wiederum wird bei der Obduktion ein Embryo gefunden, der vor vielen Jahren abgestorben und im Körper der Mutter versteinert ist.

Die Parallelen und kleinen Unterschiede in den Lebensläufen der beiden gehen weiter. Beide, Mané und Viktor, sind überangepasst und alles andere als Helden, lieber möchten sie so sein wie die anderen.

Als Viktor halbwegs erwachsen ist, zieht er in eine Wohngemeinschaft ein und schließt sich den Trotzkisten an. Wilhelm Reich und Karl Marx sind seine Lehrmeister. In einem Seminar über "Die Philosophie zwischen Hegel und Marx" begreift er, "dass die Religionskritik die unabdingbare Voraussetzung dafür war, von der bloßen Interpretation der Welt zur Veränderung der Welt fortzuschreiten."

Mané, vertrieben aus der Hölle der iberischen Nacht, erlebt, dass er selbst in der Freiheit vor Demütigungen nicht sicher ist, mehr noch, dass diese hier viel offener, unbesorgter und vielfältiger ausfallen, weil es auch eine Freiheit des Hohns gibt. Viktor erleidet ebenfalls Verletzung und Herabwürdigung, nämlich in der scheinbaren Solidarität der studentischen Wohngemeinschaft, in der man über ihn zu Gericht sitzt, weil er die Abtreibung einer Studentin nicht bezahlen will, die ihn der Vaterschaft angeklagt hat, obwohl er nicht der Erzeuger ihres ungeborenen Kindes ist.

Später wird aus Manoel der bekannte Rabbiner Samuel Manasseh ben Israel. Er ist der Lehrer von Baruch Spinoza in der Amsterdamer Thora-Schule und erringt als Philosoph und Publizist internationale Beachtung. Gegen Ende seines Lebens fährt er nach London - 1290 waren alle Juden von dort vertrieben worden -, um mit Cromwell über die Wiederzulassung von Juden in England zu verhandeln.

Viktor und Hildegund landen zu guter Letzt bei ihrer nächtlichen Tour durch Wien in der "Eden-Bar". Dort treffen sie einen ihrer ehemaligen Lehrer, Professor Spazierer, der ihnen gut gelaunt vorrechnet, dass Viktor nicht die Mitgliedsnummern, sondern die Geburtsdaten der Lehrer verkündet und noch eine Zahl hinzugefügt hat. Zwei Stunden nach ihrem plötzlichen Aufbruch habe man den Betrug entdeckt, die Kollegen hätten sich köstlich amüsiert. Nur bei zweien hätten Viktors Fantasien ziemlich genau der wahren Geschichte entsprochen, aber das habe man ohnehin gewusst. War das Ganze am Ende nur eine Komödie? Kehrt die Tragödie als Farce wieder?

"Wenn man weiß, wie die Zeit war, dann weiß man, wie der Mensch war, solange man sonst nichts weiß. Weil der Mensch zu jeder Zeit so ist wie immer", sagt der Lehrer Spazierer.

Bei Mané schließt die Geschichte mit dem Satz "Im Dunklen ist alles vorstellbar". Er hat ihn kurz vor seinem Tod niedergeschrieben. Viktor, der sein Leben noch vor sich hat, will nach dem Treffen zum Spinoza-Kongress nach Amsterdam fahren, um dort einen Vortrag zu halten.

Der Leser aber überlegt: Steckt in den beiden zitierten Sätzen von Spazierer und Samuel Manasseh ben Israel schon die ganze Quintessenz von Menasses opulent erzähltem Roman? Auf den ersten Blick fällt das geschichtsphilosophische Resultat recht mager aus. Oder worum geht es sonst in Robert Menasses Roman? Um geschichtliche Logik? Um Schnittpunkte in den Schicksalen der Einzelnen, der Völker und der Staaten? Um den Sinn von Geschichte, um den Sinn des Erinnerns und um Erlösungsglauben? Um die Suche nach Zugehörigkeit und Identität? Um Selbst-Entfremdung und Selbst-Entdeckung, um Verrat und Verfolgung? Um jüdische existentielle Doppelbödigkeit, um das Spezifische des Judeseins, das jahrhundertelang mit dem Zwang verbunden war, sich zu verstecken, sich anzupassen, sich zu verleugnen aus Angst vor Verfolgung und dem Bedürfnis nach Sicherheit? Auch das Motiv des jüdischen Selbsthasses klingt kurz an.

Aber vieles ist in den Lebensläufen der beiden Protagonisten etwas willkürlich und zu absichtsvoll aufeinander zugeschnitten. Trotz vieler spannender Einzelmomente, trotz turbulenter Szenen, trotz farbig ausgemalter Milieus - vor allem die sechziger und siebziger Jahre hat der Autor mit feinem ironischen Pinselstrich treffsicher skizziert - und trotz der ungeheuren Fülle historischer Ereignisse, wirkt der Roman insgesamt nicht recht überzeugend, eher etwas überanstrengt und mit Bedeutung überfrachtet.

Auch wenn detailreich eine wichtige Schlüsselepoche europäischen Judentums veranschaulicht wird und der aufwendig recherchierte historische Teil Bewunderung weckt, so bleibt doch vieles äußerlich und verkrampft. Zumindest ist der Roman nicht der ganz große Wurf, den man sich anfangs erhofft hat.

Titelbild

Robert Menasse: Die Vertreibung aus der Hölle. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
494 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3518412671

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