An den Grenzen des Bewusstseins spielende Poesie

Olga Tokarczuks "Ur und andere Zeiten"

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Am Anfang gab es keinen Gott. Es gab weder Zeit noch Raum. Es gab nichts als Licht und Dunkelheit. Und das war vollkommen." Diese Sätze stehen ungefähr in der Mitte des Romans "Ur und andere Zeiten" von Olga Tokarczuk, und ihre Stellung gibt zu erkennen, dass die Vollkommenheit verpasst wurde. Niemand hatte daran denken können aufzuhören, bevor es anfangen konnte. Mit der Geburt von Gott, Zeit und Raum wurden deren Eigenschaften schmerzlich spürbar: Die Welt ist unvollkommen, unsystematisch und ungelenkt. Sie existiert als wirres Netz unzähliger Bedeutungsstränge und Möglichkeitsfäden, während die verwinkelten Blicke der Menschen ein trügerisches Bild von Gradlinigkeit porträtieren.

Der dritte Roman der 1962 geborenen polnischen Autorin spielt im fiktiven Städtchen "Ur", das gleichwohl in den Rahmen der realen geschichtlichen Ereigniskette des 20. Jahrhunderts eingebunden ist. So ziehen die auftretenden Personen natürlich auch in die Weltkriege oder bleiben mit der jeweiligen Besatzungsmacht zurück. Es gibt allerdings weder ein eigentliches Zentrum, um das sich die Begebenheiten gruppieren, noch eine feste zeitliche Ordnung. Man könnte den Roman ohne nennenswerten Sinnverlust ebenso produktiv rückwärts lesen, da er asymmetrisch wie ein riesiges Pilzgeflecht wächst: launenhaft und willkürlich treibt er Köpfe an die Oberfläche, aus denen die Situationen erwachsen, die unterirdisch und daher größtenteils verborgen miteinander verbunden sind. Tokarczuk entfaltet auf diese Weise postmodern anmutende Strukturen. Die Träume der in Ur lebenden Geschöpfe haben denselben Realitätsgrad wie die fiktiv-tatsächlichen Ereignisse und alltäglichen Lebensumstände der Kleinstadtbewohner. "Die Menschen träumen und verwechseln ihre Träume mit dem, was sie für die Wirklichkeit halten." Daher ist die Verwunderung in Ur selten. Menschen werden zu Tieren, Geistern und Landschaften. Die Gegenstände verfügen fraglos über Seelen, und in der Nähe von Ur gibt es einen Ort, der aus dem Nichts gottgleich Dinge schöpft oder verschwinden lässt.

Durch einen Perspektivenreigen leiht der Erzähler seine Macht der jeweiligen Person oder dem Gegenstand, an der oder dem es nun ist, die Zeit zu überbrücken. Dieser ewige Wechsel spiegelt sich in den Kapitelüberschriften, die immer mit den Worten "Die Zeit von..." beginnen und dann den Namen des jeweiligen Handlungsträgers nennen. Über all dem steht die Idee eines großen und komplizierten Spiels, an dem alle ungefragt teilnehmen müssen. "Der Spieler, der an Gott glaubt, sagt dann 'göttliches Urteil', [...] wenn er aber nicht an Gott glaubt, wird er sagen 'Zufall', 'Zusammentreffen bestimmter Umstände'. Manchmal wird der Spieler die Worte 'meine freie Entscheidung' benutzen, aber er wird sie mit Sicherheit leiser und ohne Überzeugung aussprechen. Das Spiel ist die Landkarte einer Flucht. Sie beginnt im Zentrum des Labyrinths. Ihr Ziel ist es, alle Sphären zu durchlaufen."

Die Frage nach dem, was das Sein ausmacht, taucht immer wieder sowohl in kleinen philosophischen Reflexionen als auch in bestimmten Emotionen auf, z. B. als "quälendes Gefühl der Unvollständigkeit". Besondere Bedeutung erhält die Todesproblematik, die von den Protagonisten auf unterschiedlichste Art und Weise erfahren wird: "Eines Nachts oder eines Morgens überschreitet der Mensch die Grenze, er hat seinen Gipfel erreicht und macht den ersten Schritt bergab, in Richtung Tod. Dann stellt sich die Frage: soll man stolz hinabgehen, das Gesicht dem Dunkel zugewandt, oder soll man sich der Vergangenheit zuwenden, den Schein wahren und so tun, als sei das nicht die Dunkelheit, sondern als sei nur das Licht im Zimmer erloschen." Das Selbst-Wissen und Wissen-Zulassen bringt demzufolge zugleich die Befangenheit der Menschen hervor, denn "je wacher, je aufnahmefähiger das Bewusstsein ist, desto größer ist die Angst." Die merkwürdig belebten Dinge bilden einen Gegensatz dazu. In Tokarczuks Roman sind, wie schon angedeutet, selbst Pflanzen voller Träume und haben pulsierende Herzen. Aus dem mangelnden Selbstbewusstsein der Naturdinge jedoch erwächst eine einzigartige "Befreiung von Zeit und Tod". Nur so ist zu verstehen, wie z. B. ein Pilz den Lauf der Zeit verlangsamen kann und für die Bäume die Menschen ewig zu existieren scheinen.

Titelbild

Olga Tokarczuk: Ur und andere Zeiten. Roman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Esther Kinsky.
Berlin Verlag, Berlin 2000.
335 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3827003407

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