Man ist, was man liest

Verführerischer Sound in Thomas Meineckes neuem Roman "Hellblau"

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anfang der 80er Jahre war die Postmoderne noch taufrisch. So genannter Zitat-Pop erlebte seine große Blüte, und der französische Poststrukturalismus erreichte unter Hipstern eine ungeahnte Popularität. Sogar auf Pop-Platten fanden sich Zeilen wie die folgende von Scritti Politti: "I'm in love with Jacques Derrida / I'm in love with his hardest words". Es war zu einem kleinen Paradigmenwechsel gekommen. Pop war plötzlich aufgeklärt und intellektuell, und das strahlte aus auf die neuere Literatur.

Damals konnte man in einem schmalen und beliebten Merve-Bändchen folgendes lesen: Schreiben, so Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrem "Rhizom", habe nichts mit Bedeuten zu tun, sondern mit Landvermessen und Kartografieren. Das Produktionspaar unterscheidet zwischen drei verschiedenen Buchtypen: Einen klassischen Typus nennen sie das Wurzelbuch, das die Welt imitiere wie die Kunst die Natur; jede Schicht sei signifikant und subjektiv, verpflichtet einem traditionellen, dichotomischen Denken, das von einem Ursprung ausgehe. Daneben stellen sie die "büschelige Wurzel", einen Typ, den die Moderne gerne in Anspruch nehme. Die Hauptwurzel ist verkümmert, und eine Vielzahl von Nebenwurzeln beginnt wild zu wuchern.

Bleibt der dritte Buchtyp, auf den Deleuze und Guattari hinauswollen: der rhizomatische. In ihm erkennen sie das erstrebte "Prinzip der Konnexion und der Heterogenität". Jeder beliebige Punkt eines Rhizoms, eines sich verästelnden und in alle Richtungen sich ausbreitenden, Knollen und Knötchen bildenden unterirdischen Sprosses, könne und müsse mit jedem anderen verbunden werden. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, unaufhörlich wird alles miteinander verknüpft, alles hängt mit allem zusammen. Hierarchien werden aufgelöst, und von einem sprechenden Subjekt kann keine Rede mehr sein.

Lange Einleitung, kurzer Sinn: Ein meisterhafter Vertreter dieses rhizomatischen Typus' und ein erklärter "Pop-Sommer-1982-Typ" hat nun sein sechstes Buch und seinen dritten Roman vorgelegt: Thomas Meinecke heißt der Autor, der auch Musiker und Radio-DJ ist, "Hellblau" das Buch.

Hellblau ist nicht nur das Meer, an dem sich eine der Hauptfiguren zu Forschungszwecken aufhält und in das eine andere gerne eintauchen will; das Meer, durch das sich die musikalischen Unterströme des Buches ziehen, in dem deutsche U-Boote während des Zweiten Weltkriegs vor der amerikanischen Küste versenkt wurden und der Mythos des "Schwarzen Atlantik" angesiedelt ist. Hellblau ist auch das Frotteekleid, das eine der weiblichen Protagonisten trägt.

Frottee interessiert Meinecke besonders aufgrund seiner Struktur: eine Unsumme kleiner Schlaufen und Häkchen, lauter Ösen, die im Ganzen des Behaglichkeit ausstrahlenden Gewebes wiederum verschwinden. Mit anderen Worten: Das Rhizomatische erhält im Frottee seine künstliche Entsprechung, und die Künstlichkeit der Form ist etwas, das den bekennenden Verächter des Authentischen besonders reizt. Konsequent ist, wie Meinecke sich jeglichem Originalitäts- und "Echtheits"-Streben entzieht und stattdessen alle möglichen kulturellen Stränge aufgreift, um sie miteinander zu verschlingen und einen gewaltigen Bewusstseinsraum zu schaffen - ein riesiges Verweissystem.

Schon in seinem letzten Roman "Tomboy" bildete diese Methode, abgeschaut nicht nur von dekonstruktivistischen Theorien (des Feminismus), sondern auch von moderner elektronischer Musik, das Grundprinzip seines Schreibens. Nicht umsonst hat sich ein in "Hellblau" mehrfach erwähntes Techno-Label nach Deleuzes und Guattaris "Mille Plateaux" benannt, jenem Werk, das den schon erwähnten Theorie-Schlager "Rhizom" als einen Teil enthält. Zusammenhänge also überall. Endete "Tomboy" mit der sehr weitreichenden, einen ganzen Zeichen-Kosmos öffnenden Frage "Was werden wir tragen?", so antwortet "Hellblau" nun also gleichsam mit einem Frotteekleid.

Aber eigentlich gibt es, wie in allen Büchern von Meinecke, keinen Anfang und selbstverständlich auch kein Ende. Meinecke fällt gleich mit dem ersten Satz ins Buch, der Leser findet sich plötzlich mitten im Geschehen, das nach klassischen Kriterien mit Handlung nicht viel gemein hat. Vielmehr begleiten wir ein paar Figuren eine Strecke ihres Wegs, der mit Büchern und Platten gepflastert ist und durch verschiedene Diskursschichten führt. Diese abgebildeten Diskurse bilden den Mittelpunkt. Sie erschaffen erst das Personal und die Geschichte.

Das zentrale Thema - die (De-)Konstruktion ethnischer Identitäten - wird gleich auf den ersten Seiten in einen verführerischen Fragesatz gehüllt: "Welche Farbe hat Mariah Carey?" möchte Tillmann wissen. Der Mannheimer - Mannheim ist ein notorischer Ort in den Büchern Meineckes - sitzt zurückgezogen forschend in einer Fischerhütte an der Ostküste der Vereinigten Staaten, seinem "Net House", und ist tatsächlich angeschlossen ans weltweite Netz. Das Internet ist das wichtigste Medium, über das in diesem Buch kommuniziert wird - "Hellblau" als E-Mail-Roman, wenn man so will. Gerichtet ist die Frage nach der Hautfarbe Mariah Careys an Yolanda, die ein paar hundert Kilometer entfernt in Chicago ebenfalls in die Problematik ethnischer Identität vertieft ist.

Die beiden arbeiten gemeinsam an einem Buch, das genau genommen jenes ist, welches Meinecke nun vorgelegt hat. Der Mythos des "Black Atlantic", die schon in "Tomboy" virulente Frage nach dem Zusammenhang von Antisemitismus und Antifeminismus, weiße Musiker, die den Blues spielen, schwarze Kids, die Musik von Kraftwerk goutieren und daraus in Detroit und Chicago Techno entwickeln, Techno-Labels mit Bezug zu Unterwasserwelten - all das wird in "Hellblau" und in jenem Buch von Tillmann und Yolanda verhandelt.

Es geht dabei vom Hundertsten ins Tausendste: Von erotischen Vorgängen im Fischerhäuschen - die Judaistik-Doktorandin Vermilion fordert Tillmann auf, mit ihrem "Juden", ihrer Klitoris, zu spielen - sind es nur wenige Zeilen zur Problematik der ungewöhnlichen Fluidität der Geschlechter im Judentum. Doktor Fließ wird "als Theoretiker der Nase als Ort einer primären Sexualneurose" vorgestellt, und Freud wartet schon wenige Gedankensprünge später. Und immer wieder geht es zurück zu historischer und aktueller Musik - jüdische Musiker, die als schwarz gelten - und mitten rein in die deutsche Vergangenheit: Bitburg steht hier als Symbol für eine verhängnisvolle Geschichtslosigkeit.

Die Figuren spinnen sich eine gewaltige Textur, in die durchaus ironische Töne eingewoben sind. Aber es entsteht keine festgeschriebene Bedeutung, sondern vielmehr eine Landkarte des Diskursdschungels, durch den sich die Protagonisten schlagen. Nur dass diese Karte, ähnlich wie in Borges' Fabel "Von der Strenge der Wissenschaft", nicht unbedingt verdichtet ist und keinen deutenden Überblick erlaubt. Sie bildet alles detailgetreu und in Originalgröße ab. Manchmal kommt einer der jungen Intellektuellen dann doch ein leiser Zweifel, der mit der immer leicht am Assoziations-Overkill entlang entwickelten Konstruktion des Buches zu tun hat: "Nach wie vor wundere ich mich über Tillmanns Zuversicht, dass uns ein deutscher Verlag das ganze Konvolut abkaufen wird."

Meineckes Figuren, zu der sich noch Tillmanns in Berlin beheimatete Ex-Freundin Cordula und deren aktueller Freund Heinrich gesellen, arbeiten sich lustvoll durch einen Wust an Zeitungsausschnitten, wissenschaftlicher Literatur, Texten aus dem Bereich der Cultural Studies oder eben Schallplatten. Produktive Widersprüche generieren ein geradezu labyrinthisches System von häufig anekdotischen Erzählungen, zeitaktuellem Hintergrundrauschen oder nacherzählten Technotracks, aus dem man am Ende nur entwischt, wenn man sich mit dem Unabgeschlossenen und Ungelösten versöhnt.

Das nämlich bietet Meinecke an: die Erkenntnis, dass Identität eine offene Geschichte ist, eine Geschichte hat und immer wieder dekonstruiert werden muss. Die Perspektiven der drei Ich-Erzähler Tillmann, Yolanda und Cordula fließen dabei mehr oder weniger ineinander. Wer gerade spricht, wird nicht eigens markiert. Man ist, was man liest. Gewissheiten existieren nicht, so dass sich zwar keine Handlung entwickelt, das Bewusstsein der Figuren aber schon: "An meiner ungebrochenen Begeisterung für die beseelte Musik des Kaukasiers Dan Curtin, die mir Cordula und Heinrich letzte Woche überspielten, stellte ich, nicht ohne zu erstaunen, fest, dass es mir mittlerweile so gut wie egal ist, ob Techno beziehungsweise House Music schwarzer oder weißer Herkunft ist. Ich habe diesen inneren Fortschritt sofort an Yolanda, die mir immer vorwarf, dass meine fast ausschließliche Begeisterung für afrikanisch-amerikanische Musik strukturell rassistisch sei, weiter gemeldet."

Trotz aller Vielfalt und Bezüge bröckelt dieser Roman nicht auseinander, und er franst nicht aus. Das liegt zum einen an den symptomatischen und für das "Erzählte" äußerst wichtigen Orten, die von den Erzählern vermessen werden: die Atlantikküste (schwarze Ursprungsmythen, deutsche U-Boote), Chicago (Techno), Berlin und Bitburg (deutsche Geschichte). Das liegt zum anderen an den Motiven des Buches, um die herum sich die Anekdoten, Erzählstränge, Exzerpte und Schwärmereien gruppieren. Zentral ist dabei das Wasser, hier fließt alles zusammen.

"Hellblau" entwickelt einen Sog. Wie Meinecke sich mühelos von allen Konventionen herkömmlichen Erzählens befreit, mit der größten Kunstfertigkeit popkulturelle und wissenschaftliche Versatzstücke durcheinander wirbelt und in einen atemberaubend verführerischen Sound übersetzt, ist einzigartig. Er schafft spielend das, was er als gestandener Popist und Zitat-Fetischist eigentlich gar nicht intendiert: äußerst originell zu sein.

Titelbild

Thomas Meinecke: Hellblau. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
340 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3518412663

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