Völlig abgestumpft gegen das Vergebliche - nur wegen Fußball

Thomas Brussig lässt in seinem neuen Buch einen 'Trainerfuchs' aus dem Nähkästchen plaudern

Von Andreas BinrothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Binroth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man stelle sich folgende Situation vor: Man sitzt in der Kneipe, an der Theke. Vorzugsweise auf dem Dorf. Und neben einem nimmt ein älterer Herr in einem Trainingsanzug Platz. Auf dem Kopf ein Cordhütchen - das wäre super, muss aber nicht. Und jetzt beginnt er zu erzählen: "Eigentlich ist Fußball ja wegen der Evolution. Das hätten Sie jetzt nicht gedacht, ist aber ne Tatsache. Evolution ist ein Begriff, denk ich mal, also Steinzeit, Neandertaler, Schimpanse, Sie wissen Bescheid. Wir haben ja vor Jahrmillionen auf den Bäumen gehockt, in Asamoahs Heimat, haben die Früchte abgefressen, und als der Baum leergefressen war, mussten wir zum nächsten..."

Dies ist nur einer, ein vollkommen beliebig gewählter Auszug aus dem Monolog, den Thomas Brussig - in der jüngeren Vergangenheit mit den Bestsellern "Helden wie wir" (1995) und "Am kürzeren Ende der Sonnenallee" (1999 - verfilmt unter dem Titel "Sonnenallee") überaus erfolgreich - den einen und einzigen Protagonisten seines neuen Buches "Leben bis Männer" sprechen lässt. Zwar hält Brussigs 'Held' seinen Monolog nicht in der Kneipe, sondern auf dem Bolzplatz, ein Netz voller Fußbälle geschultert, doch ist diese Szene auch an jeden Stammtisch ganz 'Fußball-Deutschlands' verlegbar. Es ist der Monolog eines Mannes, dessen ganze Lebensphilosophie sich auf ein Wort reduzieren lässt: Fußball. In guten wie in schlechten Zeiten. Konsequenterweise prangt auf dem Buch-Cover auch ein Fuß. Die Denkansätze, die Brussig den namenlosen Trainer - nicht Übungsleiter, darauf legt er größten Wert - zum Besten geben lässt, sind indes nicht immer ganz nachvollziehbar, oft wirken sie sogar ausgesprochen unausgegoren. Doch leiht man diesem ostdeutschen Vertreter der Spezies 'Fan', der seine Laufbahn beim "BSG Tatkraft Börde" begann, für etwa ein bis zwei Stunden sein Ohr - denn ungefähr so lange dauert die Lektüre des Buches -, so wird man es nicht bereuen.

"Leben bis Männer" ist nicht nur was für 'Eingefleischte', so wie etwa Nick Hornbys "Fever Pitch" DIE Pflichtlektüre für den Fußballfan schlechthin ist, aber eben auch nur diesen und sonst niemanden anspricht. Wer den Satz "Der Ball ist rund" Sepp Herberger zuordnen kann und Fußball und das ganze Drumherum nicht kategorisch ablehnt, der ist hier richtig. Vollkommen fehl am Platze seien beim Thema Fußball nach unseres Trainers Auffassung allerdings die Frauen, und zwar schlicht und einfach deshalb, weil sie den Fußball nicht verstehen - "zutiefst". Nicht verstehen wollen? Nicht verstehen können! Als Frauenfeind will er sich jedoch nicht (miss-)verstanden wissen. Nur dieses Entweder-oder' dieses 'Ich-oder-die-Mannschaft', das Abwerben talentierter, junger Spieler durchs weibliche Geschlecht, das stößt ihm wirklich übel auf. Schon so mancher seiner "Jungs" stand auf der Kippe, weil die Freundin ihn eher fürs Bett als fürs Training zu motivieren verstand. Ein jedes Mal Stiche in des Trainers Fußballerseele, denn schon den eigenen Sohn 'verlor' er an eine Frau, seine Frau, genauer: seine Ex-Frau. Seither ist er traumatisiert, seine Heimat der Verein, seine Familie die Mannschaft. Und sein Ersatz-Sohn, der Heiko, ein Abwehrspieler. Als Heiko einst von "so einer" abgeworben zu werden drohte, griff sein Ziehvater ganz tief in die Trickkiste, indem er Heiko zum Kapitän beförderte. Dieser neuen Verantwortung, dieser Ehre konnte sich Heiko einfach nicht entziehen, und schon bald verlor "seine Langhaarige" das Interesse. Doch Frauen können dem Fußball in gewissen Situationen auch durchaus dienlich sein, klärt uns der Trainer auf, wenn sie nämlich als von den Spielern angehimmelte Zuschauerinnen am Spielfeldrand deren Leistungen zu beflügeln vermögen - durch ihre bloße Anwesenheit...

Mit viel Ironie zeichnet Brussig hier das Bild dieses redseligen, in seinem Sport aufgehenden und dafür lebenden 'Trainer-Prototypen', der fest davon überzeugt ist, das Leben und seine Geheimnisse verstanden, ja durchschaut zu haben. Mit 'Trainer-Prototyp' ist hier jedoch keineswegs diese neumodische Art Trainer gemeint, die statt (wie sich das gehört) im Trainingsanzug am Spielfeldrand rumzubrüllen, im feinen Zwirn auf der Bank Platz nimmt, um allenfalls in ihrem Mienenspiel den Anflug von Emotionen erkennen zu lassen. Der "Leben bis Männer"-Trainer ist einer der alten Schule, allein schon vom Habitus: krumme Beine, Bierbauch, Trillerpfeife vor der Brust; aber was das Wichtigste ist, ein "Platzbrüller", ein "Julius Cäsar der Seitenlinie" wie er über sich selber sagt. Brussig setzt ihm thematisch keine Grenzen, lässt ihn über das Leben philosophieren, ihn seine oftmals abenteuerlich-einfachen Lösungen für komplexe politische oder gesellschaftliche Problematiken erläutern. Sprachliche Grenzen hingegen sind ihm sehr wohl gesetzt, was in der Natur der Sache liegt, denn wer würde es schon ernst nehmen, wenn dieser Mensch auf einmal mit Fremdwörtern um sich schmisse und Nietzsche zitierte. Hier spricht einer, der weiß wo´s langgeht, der das zumindest glaubt.

Auf so ziemlich jede Frage hat unser Trainer die passende Antwort parat. So auch darauf, wie man denn um alles in der Welt nun gerade zum Fußball kommt: "Wenn einer groß ist, geht er zum Basketball, wenns Töchterchen nicht wachsen will, kann sie Turnerin werden, die Dicken werden Kugelstoßer und die Dünnen Marathonläufer. Aber beim Fußball spielt ALLES mit: Dicke, Dünne, Große, Kleine, Krummbeinige... Die besonders!" Bei all der Trainer-Begeisterung für den Volkssport und dessen Legenden, die Beckenbauers, Völlers, Pelés und vor allem Sparwassers, vertritt er aber die unumstößliche Auffassung, Fußball sei etwas, das vom Menschen einfach nicht zu beherrschen ist. Da sei es schon verwunderlich, dass es uns gerade dieses Spiel mit dem Fuß so angetan habe, wo doch jeder wisse, dass der Fuß ein hoffnungsloser Fall ist. Gegenüber Lippen, Zunge, Fingern und Händen. Der Mensch sei viel zu ungeschickt mit dem Fuß um Fußball zu spielen, und deshalb müssen die Tore auch "so groß sein". Fußball erlernen zu wollen, sei vergebene Liebesmüh', und dennoch probiere es (fast) jeder. "Seit Fußball machen wir das, was wir nicht können" und "Wir sind völlig abgestumpft gegen das Vergebliche". Fußball sei Dank!

Doch zurück zu Heiko: Auf Heiko ist Verlass. Bekommt er von seinem Trainer die Anweisung, seinen Gegenspieler 'umzuhauen', 'haut' Heiko seinen Gegenspieler 'um'. Als Befehlsempfänger und -ausführer bewährt sich Heiko zwar in seiner Mannschaft, als er jedoch zum Militär muss, wird ihm sein blinder Gehorsam zum Verhängnis. Allerdings erst nach dem Mauerfall. Da ist man nämlich plötzlich der Meinung, Heiko habe einmal zu viel "einen umgehaun". Fortan ist er nicht mehr richtig bei der Sache und patzt im entscheidenden Spiel. Die Konsequenz ist der verpasste Aufstieg seiner Mannschaft und ein Trainer, der sich ärgert; der sich ärgert über die unfähige DDR-Nationalmannschaft, die es nach `74 nie wieder zu einem großen Turnier schaffte, über die streikenden Busfahrer auf Mallorca, über das unkalkulierbare Auf und Ab an der Börse, über den rasant voranschreitenden technischen Fortschritt, über die Langweiligkeit von 'Randsportarten' wie Volleyball, über praktisch nie funktionierende Computer, über Frauen, die Richterämter bekleiden, und, und, und. Und Ursache all dessen ist - wie soll´s anders sein - nur der Fußball.

Titelbild

Thomas Brussig: Leben bis Männer.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
96 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3596154170

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