Rüstzeug für das 21. Jahrhundert

Thomas Kling richtet den Sprachspeicher ein

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Kling, der Ende Oktober die Laudatio auf Friederike Mayröcker anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises hielt, wurde von seinem Verlag gefragt, welche deutschsprachigen Gedichte man für das beginnende Jahrhundert brauche. Die von Kling zusammengestellte Anthologie "Sprachspeicher" ist seine wunderbar provokative, da subjektiv stets immer ungerechte Antwort. Dabei zeigt sich der Dichter, der an anderer Stelle schon oft zu poetologischen Fragen Stellung bezogen hat, einmal mehr als Mann mit einer Mission. Selbst eher auf eine österreichische Tradition ausgerichtet, möchte Kling vor allem den Akzent auf die Verdienste der Avantgarde setzen. Währenddessen gilt es nicht zu vergessen, wer die Vorarbeit geleistet hat. Das Barock mit seinen Sprachspielen und überbordenden Metaphern ist ihm ebenso wichtig wie die dialektale Färbung des mittelhochdeutschen Minnesangs. Zu jedem ausgewählten Zeitraum, der sich nicht immer nach literaturwissenschaftlichen Epochen richtet, liefert der Autor eine uneitle und manchmal saloppe Einleitung, von der aus Rückschlüsse auf sein Schaffen gezogen werden können. Zugleich begründen diese kurzen Texte die Auswahl, d. h. sie begründen vor allem das Fehlen einiger Etablierter.

Die ersten beiden Abteilungen, die der Zaubersprüche und des Minnesangs, kennzeichnen Klings Vorlieben. Da ist zum einen das heidnisch-kultische, das ethnographische Interesse, und zum anderen die Begeisterung für den Klang des Gedichts. Walthers von der Vogelweide "Ich hôrte ein wazzer diezen" wird ein Primat des Hörens abgelauscht, während bei der Troubadour-Dichtung vor allem die mündliche Überlieferung hervorgehoben wird, damit einhergehend auch die Performance eines Textes, der "Live-Auftritt" des Sängers. Des Weiteren legt er Wert auf die Tatsache, dass der Dialekt in dieser Lyrik eine entscheidende Rolle spielt wie auch der Unterhaltungswert, den er von einem Gedicht Oswalds von Wolkenstein ableitet, in dem dieser berichtet, wie er bei einem seiner Auftritte vom Publikum gefeiert wurde. Nun hat Kling in zahlreichen Aufsätzen auf die Verwendung des Jargon und des Rotwelsch wie auch diverser Fachsprachen hingewiesen, ebenso wie auf das histrionische Wesen des Dichters; die CD etwa, die beispielsweise seinem letzten Gedichtband "Fernhandel" beiliegt, bezeichnet er als "gebrannte Performance". Er hat nicht allein Oswald von Wolkenstein eine ganze Reihe von Gedichten gewidmet, in "Botenstoffe" stattete er ihm wie auch Johann Michael Moscherosch oder Justus Georg Schottelius seinen Dank ab. In der Anthologie kann man nun die Quellen dieser Tradition ergründen, wobei man in den Genuss einiger Übersetzungen aus dem Mittelhochdeutschen von Kling kommt. Hinsichtlich dieser erstaunt, wie sehr Kling selbst sich auf den Klang, auf die Nähe zum Originalton konzentrieren kann, wie er in einem anderen Fall aber auch die überspitzte Aktualisierung nicht scheut. Wenn er in einem Gedicht Heinrichs von Morungen "díu vil wolgetâne" als "die supertolle" übersetzt, muss er mit derselben Kritik rechnen, die ihm bei seiner Übertragung von "Das Haar der Berenice" entgegenschlug, denn "das wird in den Bohnerwachsinstituten der deutschen Philologie nicht gern gesehen", wie er dazu bemerkte.

Zur Auswahl der Gedichte lässt sich einiges sagen. Zuerst muss festgehalten werden, dass sich Kling um den Kanon nicht schert, so ein solcher abseits der Lehrerzimmer und der Kultusministerkonferenz überhaupt existiert. Darüber hinaus betont er die oben angesprochenen Leitlinien. Das Ergebnis ist eine überaus lesenswerte und erfrischend neue Textsammlung. Viele Texte, die aus anderen Anthologien herausgefallen sind, finden sich im "Sprachspeicher" wieder, während das allzu Bekannte und das Überflüssige gestrichen wurden. Gemäß Nietzsche, so Kling im Nachwort, müsse eben "allem Schlechten und Mittelmäßigen sofort aus dem Wege" gegangen werden. So kann man sich herrlich an Klings Zusammenstellung stören, besser aber man begibt sich mit ihm auf Entdeckungsreise. Besonders lohnend wird diese, wenn sich der Blick auf die neueste Literatur richtet, der Kling ein eigenes Kapitel zugesteht. Anne Duden, Peter Waterhouse, Marcel Beyer, Kurt Aebli und Ferdinand Schmatz, um nur einige zu nennen, sind z. B. in diesem letzten Abschnitt vertreten. Doch auch die vorangehenden Epochen überraschen mit unverstaubten Klassikern. Außerdem sei es einmal gesagt, wer wollte schon eine weitere Anthologie, in der das Immergleiche wiederkehrt? Dass "Willkommen und Abschied" ein lesenswertes Gedicht ist, wird nicht in Frage gestellt, doch "Stratus" von Goethe ist wohl noch nicht jedem aus der Schulzeit bekannt.

Wie aber steht es um das Schlechte und Mittelmäßige? Was fehlt? Dass ein Gedicht von Hans Magnus Enzensberger zu finden ist, dessen "aufgeräumte Petitessen", so Kling in einem Gespräch, den Editor eigentlich nie interessiert haben, mag den Kling-Kenner vielleicht verwundern. Dass aber Günter Kunert, Wolf Biermann, Volker Braun, Erich Fried, Ulla Hahn, Sarah Kirsch oder Robert Gernhardt nicht zugegen sind, mag nicht ausschließlich mit dem begrenzten Seitenumfang zu erklären sein. Darüber mag man streiten, doch sei ein entscheidender Vorteil von "Sprachspeicher" gegenüber vielen anderen Anthologien erwähnt. "Sprachspeicher" lädt nicht nur durch die strenge Auswahl, der in aller Bescheidenheit auch Klings eigene Texte zum Opfer fielen, zum Gebrauch ein. Sogar der Umschlag des Buches, auf dem ohne weiteres auch mal ein Glas Wein deponiert werden kann, signalisiert, dass es nicht nur ins Regal gestellt sein will. Also, viel Vergnügen beim Lesen und Benutzen.

Titelbild

Sprachspeicher. 200 Gedichte auf Deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert.
Eingelagert und moderiert von Thomas Kling.
DuMont Buchverlag, Köln 2001.
360 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 377015813X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch