Mutter aller Popmusik

Carl-Ludwig Reichert erzählt die Geschichte und die Geschichten des Blues

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Carl-Ludwig Reichert führt straight ins Herz des Blues hinein. Schon seine Einleitung enthält in nuce alles, was man über diese Musik- und Stilrichtung, diese Geisteshaltung, dieses Selbstverständnis wissen muss. Schon die erste Seite beschreibt das 'Geheimnis' des Blues, nämlich die Spannung zwischen dem relativ starren Taktgefüge, dem festen Wechselverhältnis der Harmonien und der "Blue Notes", den Zwischentönen, die neben der individuellen Farbe und den Rhythmen den eigentlichen Reiz des Blues ausmachen. Die Blue Note ist für den Blues das, was der unreime Reim für die Poesie ist: die überraschende, nicht erwartete und zugleich erwartbare, die vielleicht nicht 'korrekte' und doch zulässige, ja erwünschte Abweichung von der Regel, die der Harmonik und Melodieführung Spannung und Relief verleiht.

Wie alle große Musik ist der Blues einfach, und genau das macht es "so schwierig, ihn einfallsreich und interessant zu spielen". Wie Bach - Anfang und Ende aller Musik - ist er nicht selten 'schematisch', dadurch aber auch offen für Variationen aller Art. Dies führt nicht zuletzt in 'verwandte' Stilrichtungen, wie Boogie, Rhythm & Blues, Dixieland, Skiffle, Blues-Rock, Jazz, Free-Jazz, Soul, Hip-Hop und sogar Rap.

Carl-Ludwig Reichert ist in seiner Darstellung kein Purist - dies zeigt auch die lange Liste der Namen und Interpreten, die er in seinem (vorzüglichen!) Register aufführt. Aber er wertet entschieden und sondert das Geglückte vom weniger Geglückten. In der sozialen Entstehungsgeschichte des Blues ist er ebenso bewandert wie in der Geschichte seiner Synthesen und seiner Legenden, die zu so unterschiedlichen Interpreten wie Bob Dylan, Janis Joplin oder Joni Mitchell führen und bis in den Folk-Blues hineinreichen: "Wenn man den Blues unter Respektierung seiner vielfachen Wurzeln individualisiert, wird klar, dass eine Blues-Frau und ein Blues-Mann nur sein konnte, wer ihn entweder selbst erfand oder durch kongeniale Interpretation sich aneignete und weiterentwickelte."

Das große Entwicklungspotential des Blues zeigt auch Reicherts Kapitelfolge: Nach den "Anfängen" des Blues werden zunächst die "Frühen Dokumente" und die "Zentren des Blues" vorgestellt, gefolgt von den "ersten Stars", dem "Vorkriegs-Blues", der Blues-Forschung, den Field Recordings und Produzenten, dem "Nachkriegs-Blues", den "Blues-Revivals", dem Blues in Europa ("und überall") und dem Blues heute. Carl-Ludwig Reichert, 1946 in Ingolstadt geboren, Mundartdichter ('Benno Höllteufel'), Übersetzer, Literaturwissenschaftler, hat einige angenehm kenntnisreiche, gut orientierte Bücher zur Populärkultur geschrieben, darunter die Wissenschaftssatire "Grobian Gans. Die Ducks. Psychogramm einer Sippe" (1970), und auch sein Blues-Buch ist hervorragend. Hilfreich ist die kommentierte Auswahlbibliographie am Ende des Buchs, eine sinnvolle Ergänzung stellt die beigefügte CD "All That Blues" dar, mit Einspielungen von Willie Dixon/Memphis Slim, Lonnie Johnson, Otis Spann, Fred McDowell, Sonny Terry, Big Joe Williams, King Curtis und anderen.

Titelbild

Carl-Ludwig Reichert: Blues. Geschichte und Geschichten. Mit Audio-CD.
dtv Verlag, München 2001.
274 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3423242590

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