Gepackt vom furor interpretandi

Jürgen Manthey macht Achill zum Fall für den Psychoanalytiker

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Achill, dieser altgriechische Vorfahre John Rambos, provoziert bis heute die Dichter und Denker. "Achill das Vieh", beschimpft ihn aus feministischer Perspektive Christa Wolf in "Kassandra". Dagegen sieht der Philosoph Gernot Böhme in dem Homerischen Helden eine Zwischenstufe auf dem Weg zu einem sich in Sokrates vollendenden antiken Männlichkeitsideal. Den Literaturwissenschaftler und Essayisten Jürgen Manthey interessiert der psychoanalytische Aspekt dieser Figur und die Frage, warum sich Dichter zu allen Zeiten, von Homer bis Paul Auster, von ihr haben inspirieren lassen.

Ausgerüstet mit diversen narzißmustheoretischen Konzepten (Hanna Segal, Melanie Klein u. a.) erkennt Manthey in Achill einen bestimmten Sozialisationstypus: Achill, das ist der an einer überstarken narzißtischen Bindung zur Mama, in diesem Fall der Meeresnymphe Thetis, leidende Sohn, der dann, weil ihm sein Ersatzvater Agamemnon die Sklavin Briseis als Kriegsbeute verweigert, durchdreht und in einem hollywoodreifen Amoklauf gegen die väterlich-zivilisatorische, "symbolische" Ordnung (für die sinnbildlich natürlich Troja steht) erst zwölf umliegende Städte zerstört, um dann die Leiche des von ihm erschlagenen Hektor blindwütig tagelang um Trojas Mauern zu schleifen. Einen Gegenentwurf zu dieser Killermaschine aus Mutterliebe beschreibt Homer auch: Telemachos ist das (geben wir es zu: langweilige) Modell für den sich rechtzeitig von der Mutter abgrenzenden Sohn, der auf vorbildliche Weise erwachsen wird und daher das väterliche Erbe antreten kann.

Doch sind Mantheys höchst anregende Deutungen der Epen Homers erst der Anfang seiner tour de force durch die Weltliteratur. Der Kinderanalytikerin Melanie Klein folgend bestimmt Manthey den "Ursprung des Erzählens", ja den von Kunst überhaupt, als den Versuch, über das Wiedergutmachungsbedürfnis einen depressiven Konflikt zu lösen, nämlich den Verlust der ursprünglichen Einheit mit der Mutter. Die Mutter ist die erste und bleibende Adressatin der Aggressionen des Subjekts, weil sie die Einheit mit dem Kind zugunsten der Einheit mit dem Vater verraten hat. In der Psyche dessen, der mit diesem Konflikt nicht fertig wird, kreisen von nun an Schuldzuweisungen und Rachegelüste, die einen beträchtlichen Teil des literarischen Phantasmas und seiner Wirkungen auf den Leser ausmachen.

Zum Beweis für die Gültigkeit dieser post-freudianischen Kunsttheorie analysiert Manthey gut zwanzig Fallbeispiele aus allen Epochen der Menschheitsgeschichte. Wer auch immer Freud die historische Bedingtheit seiner als universal gültig ausgegebenen Theorien vorgehalten hat, Manthey gehört jedenfalls kann nicht dazu gehören. Der Furor des Analytikers fegt gleichermaßen über Wolfram von Eschenbach, Boccaccio, Shakespeare, Goethe, Kafka, Thomas Mann und auch über Nabokov, Kästner, Brecht, Peter Weiss und Paul Auster hinweg. Antike, Mittelalter, Gegenwart - wann auch immer ein Dichter zur Feder greift, stets verbirgt sich eine Mama zwischen den Zeilen. A propos: Wie steht es eigentlich mit Dichterinnen?

Manthey folgt zunächst dem von Michael Rutschky so benannten "Kooperationsmodell", wie es für die psychoanalytische Literaturwissenschaft von Freud exemplarisch in seiner Studie über Wilhelm Jensens Novelle "Gradiva" vorexerziert wurde: Diesem Modell zufolge erkennt der Analytiker im Dichter seinen legitimen Vorläufer und "Bundesgenossen" in der Verbreitung der tiefenpsychologischen Einsichten gegen eine ignorante, diese Erkenntnisse verdrängende und verleugnende Gesellschaft. "Psychoanalytiker und Dichter", so Manthey, "bearbeiten das gleiche Material: die Phantasien des Subjekts, die es von seinen realen Objekten mehr trennen als mit ihnen verbinden. Abgesehen davon, daß beide unterschiedliche Ziele verfolgen, verhält sich die analytische Erklärung zur literarischen Darstellung etwa so wie der zusammengeklappte Regenschirm zum aufgespannten: In begrifflicher Raffung sind alle Aspekte der Entstehung eines Kunstwerkes beisammen, doch vor dem eigentlichen Griff zu dessen Entfaltung steht der Analytiker so staunend wie wir alle." Daß also literarische Texte auf so wundersame Weise den theoretischen Aussagen über sie entsprechen, ist, so Manthey, keineswegs ein Grund zum Staunen. Wir vergessen ganz einfach, daß die theoretischen Aussagen einst aus den literarischen Texten abgeleitet wurden. Deshalb, so darf man Mantheys Gedanken weiterführen, werden bis heute neue psychoanalytische Konzepte zuerst und vor allem durch den Rückgriff auf literarische Texte belegt und weniger durch die statistische Auswertung klinischer Fälle. Das ist bei den Adepten Kohuts nicht anders als bei den Jüngern von Maître Lacan.

Die Problematik seines in seiner Radikalität selbst schon wieder psychoanalytisch verdächtigen Zerstörungslaufs durch 3000 Jahre Literaturgeschichte - also ist auch Manthey eher ein Achill als ein Telemachos? - zeigt sich, wenn Manthey einen Dichter nach dem anderen ins Prokrustesbett seiner rigiden Hab-ich's-nicht-schon-am-Anfang-gesagt?-Deutungen zwingt und dabei prompt statt dem Kooperations- dem anderen, von Rutschky "Therapiemodell" benannten Deutungsmuster folgt, bei dem der Analytiker den Dichter auf die Couch legt, alle Kunst zum Abfallprodukt einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung erklärt und noch medizinische Maßstäbe für gute und schlechte Kunst aufstellt.

Robert Musils Romantorso "Der Mann ohne Eigenschaften" scheint Beispiel für beides zu sein - für, aus Mantheys narzißmustheoretischer Position betrachtet, "schlechte" Kunst sowie für den im Einzelfall rasch auf vulgärpsychoanalytisches Niveau absinkenden Reduktionismus Mantheys. Der Formel "Achill gegen Troja" folgend sieht Manthey im ersten Romanteil den Versuch einer peinlichen Selbstdarstellung Musils - dabei steht Musils Protagonist Ulrich für Achill (ursprünglich sollte die Hauptfigur nach dem antiken Helden benannt werden) und das kakanische Wien für Troja, die symbolische Ordnung. Das ironisch-satirische Panorama einer "angeblich falsch eingerichteten Welt" ist nach Manthey ganz im Licht der Musilschen Idiosynkrasien, Wünsche und Gekränktheiten entworfen - woraus geschlossen werden darf, daß für Manthey mit der Welt offenbar alles zum Besten steht. Dagegen versande der zweite Teil des Romans mit seiner Suche nach einem "anderen Zustand" und einer möglichen Zukunft am Ende hoffnungslos in Schwulst und Kitsch. Im Zentrum des Romans stehe die unerreichbare Mutter, deren vollständige Abwesenheit einen nicht enden wollenden Zeichenstrom hervorrufe. Der ganze Roman sei, so Manthey, als Schreiben Musils an die Mutter zu sehen: Schreiben als endlose Ersatzreihe versprachlichter Objekte. Aus klinischer Perspektive besonders bedenklich erscheint Ulrichs Experiment einer Vereinigung mit seiner Schwester Agathe. Manthey diagnostiziert dies als größenwahnsinnigen Versuch des narzißtischen Subjekts, auch das andere Geschlecht zu vereinnahmen.

Mantheys Kriterium für künstlerisches Gelingen ist die endgültige, wenn auch schmerzhafte Trennung von der Mutter, vom Mutterkörper und seinen Verheißungen. Ganz im Gegensatz dazu stehe Musils bzw. Ulrichs Suche nach der Erreichbarkeit der Mutter. Agathe werde sein Spiegel, der lenkbarer und verfügbarer als die Mutter sei und aus dem es so herausschaue, wie er hineinspreche. Musil, so Manthey, war ein vom Mutterverlust traumatisierter Autor, aus dessen narzißtischer Wunde die Wörter unendlich strömten, allerdings weg vom Symbolischen und fort von jeder Formabsicht:. "Ist es Zufall, daß Musils Roman das repräsentative literarische Kunstwerk einer Epoche ist, die auch sonst in dem Sprachraum, in dem es entstand, aufs Ganze ging, Totalantworten zu geben suchte, den ganz anderen Zustand einer Politik, einer Wirtschaft, einer Moral erstrebte - um dann bei den größten Bruchstücken, um nicht zu sagen, bei dem größten Trümmerhaufen der Geschichte zu enden?"

Grund zur Aufregung über solch teils banal-simplifizierenden, teils einfach nur kuriosen Deutungen besteht nicht. Nicht nur, daß längst andere Musil-Exegeten (Hartmut Böhme, Hans-Rudolf Schärer u.a.), die Manthey alle nicht zu kennen scheint, den durchaus vielversprechenden Versuch, Musils Werk von narzißmustheoretischer Seite her zu beleuchten, in differenzierterer und überzeugenderer Weise unternommen haben. Manthey geht auch mit keinem Wort auf die Fülle psychoanalytischer Kenntnisse ein, die Musil in seinem Werk verarbeitet hat, und glaubt, ihn stattdessen wie einen naiven, präfreudianischen Dichter ähnlich Homer analysieren zu können. Letztlich löst sich Mantheys Musil-Kritik schon durch einen Blick in den Roman auf, dessen Inhalt Manthey offenbar nur partiell kennt: So mag etwa Ulrichs Schwester Agathe für den Bruder ein Spiegel sein; der Roman selbst gewährt ihr, die aus Enttäuschung über Ulrichs Zögern beinahe Suizid begeht und eine Beziehung zu einem anderen Mann anfängt, durchaus das Eigenleben, das Manthey ihr abspricht.

Fazit: Wen einmal der furor interpretandi gepackt hat, der weiß in seiner berserkerhaften Zerstörungswut mit solchen Subtilitäten wie den "Atemzügen eines Sommertags" und dem "geräuschlosen Strom glanzlosen Blütenschnees" bei Musil nichts mehr anzufangen!

Titelbild

Jürgen Manthey: Die Unsterblichkeit Achills. Vom Ursprung des Erzählens.
Carl Hanser Verlag, München 1997.
472 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3446189424

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