Ambiguität des Figürlichen

Julia Draganovic untersucht das metaphysische Grundkonzept in Ernst Jüngers Prosa

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon 1942 hat Ernst Jünger sein Werk in Phasen eingeteilt, in ein 'Altes' und ein 'Neues Testament'. Den Übergang bildet der "Sizilische Brief an den Mann im Mond" (1930), der eine neue Wertschätzung Jüngers für fiktionales Schreiben markiert. Im Begriff der "stereoskopischen Wahrnehmung" definiert der Autor ein Erkenntnisvermögen, das zu gleichen Teilen auf Fantasie, Mythos und sinnlicher Erfahrung wie auch auf naturwissenschaftlich-technischer Beobachtung beruht. Wie dieser neue Wahrnehmungs- und Erkenntnisakt in Jüngers Theorie und Praxis darstellerisch umgesetzt ist, dies zu untersuchen hat sich Julia Draganovic zur Aufgabe gestellt.

Ihre Dissertation ist eine Grundlagenarbeit, die erfreulich textnah verfährt und schnell zu Ergebnissen kommt, die auch die Sekundärliteratur sachkundig aufarbeitet und gewichtet und - wenn nötig - berichtigt und ergänzt. Die Primärtexte, die Julia Draganovic untersucht, sind - in dieser Reihenfolge - "Typus, Name, Gestalt" (1963), "An der Zeitmauer" (1959), "Das Abenteuerliche Herz" (1929 und 1938), "Sizilischer Brief an den Mann im Mond" (1930), der Essay "Über den Schmerz" (1934), sowie "Ortners Erzählung" und "Heliopolis" (1949). Julia Draganovic kann anhand dieser Texte zeigen, wie das Konzept der Stereoskopie bei Jünger theoretisch ausgeführt und sprachlich umgesetzt ist. Dabei bilden ausgerechnet die beiden spätesten Texte die Basis für Jüngers 'Metaphysik': "An der Zeitmauer", weil der Text als 'neutestamentarische Ergänzung' zum "Arbeiter" (1932) konzipiert ist, und "Typus, Name, Gestalt", weil der Essay ein 'Weltmodell' entfaltet, das "reich an erkenntnis- und sprachtheoretischen" Implikationen ist. Jüngers Strategie, seine Begriffe immer wieder in "figurative Bedeutungszusammenhänge" zu stellen und abstrakte Begrifflichkeit konsequent mit anschaulichen Sprachbildern zu konfrontieren, bewährt sich bei der Überführung "stereoskopischen Sehens" in "sprachliche Darstellung". Zugleich ist unübersehbar, dass Jünger das, was er zeitgleich wahrzunehmen behauptet, nur im diskursiven Nacheinander der essayistischen Form darzustellen vermag. Die Ambiguitäten, die dabei begrifflich auftreten, sind Julia Draganovic zufolge kein Zufall, sondern Absicht, denn Jünger kann die 'substantielle Idee' des Begriffs und Kunstgriffs der Stereoskopie nicht anders als dadurch zeigen, dass er zugleich zwei verschiedene Perspektiven und ihre Einheit präsentiert.

"Jünger gibt sich der Illusion einer darstellbaren Unmittelbarkeit (eine contradictio in re) gar nicht erst hin", führt Draganovic weiter aus, indem sie auf das Prosabuch "Das Abenteuerliche Herz" zu sprechen kommt, das in zwei Fassungen existiert und dem - wie schon Jüngers Erstveröffentlichungen der 20er Jahre - in der Rezeption eine "unverstellte Wahrnehmungsintensität" attestiert wird. Sie stellt sich damit gegen Karl Heinz Bohrers Habilitationsschrift "Die Ästhetik des Schreckens" von 1978, die ihren - Draganovics - "grundlegenden Zweifel" am Postulat der Unmittelbarkeit nicht ausräumen konnte. Sie verkennt dabei nicht die Anregungen, die von dieser sicherlich einflussreichsten Arbeit über Jünger ausgegangen sind. Zugleich arbeitet sie die Zusammenhänge zwischen den einzelnen 'Kurztexten' des "Abenteuerlichen Herzens" heraus - ein Plädoyer dafür, die Steigerung des "Schreckens" zum "Entsetzen" als Strategie des Textes zu werten und nicht als 'unmittelbare' Darstellungsqualität.

Vom geschichtsphilosophischen Pessimismus Oswald Spenglers spricht Draganovic Jünger frei. In seiner Metaphysik gehen Konstatierungen vor Wertungen. So wird die Zivilisation als Form der "Aussonderung" begriffen, in der der "historische Mensch" verschwindet, weil er einer anderen Instanz, der Gestalt des Arbeiters, weichen muss. Die "Emotionslosigkeit", ja "Gleichgültigkeit" (Lévy Bruhl), mit der Jünger solche Veränderungen konstatiert bzw. zu konstatieren vorgibt, diskutiert die Verfasserin vor dem Horizont des 'Magischen Realismus'. Den Einzugsbereich des Begriffs in der Frühen Moderne hat Michael Scheffel 1990 definiert, ohne Jüngers Werk dazuzurechnen.

Der Leitfaden dieser Arbeit, der vom "Typus, Name, Gestalt"-Buch zu den Capriccios des "Abenteuerlichen Herzens" geführt hat, bewährt sich dann in der Analyse von Jüngers Roman "Heliopolis" (1949). Denn auch hier muss die Konsistenz und die logische Abfolge der dargestellten Histoire im Discours erwiesen und müssen die Figuren als "literarische Umsetzungen" von Jüngers "Typus"-Konzeption interpretiert werden. Julia Draganovic kann zeigen, dass Jünger die Individualisierung des Typus in der Figur des Nigromontan gelingt, ohne dass zwei wichtige Merkmale des Typus-Begriffs, nämlich dass er "kein Individuum" sei und sich definitorisch nicht "festlegen" lasse, aufgegeben werden müssten.

Titelbild

Julia Draganovic: Figürliche Schrift. Zur darstellerischen Umsetzung von Weltanschauung in Jüngers erzählerischem Werk.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1998.
230 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3826012968

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