Aufreibende Halbwahrheiten im "Wortgestrüpp"

Helmut Eisendle stellt die grundsätzliche Frage nach der Bedeutung von Geistesschärfe in der Gegenwart

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht nur Locke, Berkeley oder Hume würden sich wohl im Grabe umdrehen, wenn sie Helmut Eisendles neuen Roman "Jenseits der Vernunft oder Gespräche über den menschlichen Verstand" zu lesen bekämen. Im 17. Jahrhundert wäre ein solcher Roman natürlich auch nicht möglich gewesen. Zum Glück für den österreichischen Autor Eisendle leben wir heute in postmodernen Zeiten, in denen 'gefährliches Halbwissen' bei Bedarf als kreativer Ausdruck für neue Erfahrungs- und Lebensformen fungieren kann. So stellt sich dem Protagonisten Schubert folgendes Problem: "Es ist paradox: Die Klugheit besteht darin, dumm zu sein, aber wer ist schon so klug, dumm zu werden, wenn er so dumm war, klug geworden zu sein." Irgendwo dazwischen verliert sich der Roman - vor allem im bloßen Konstruieren von Wortkonstellationen, wie z. B.: "Die gleichgültige Zärtlichkeit dieser Welt. Die zärtliche Gleichgültigkeit dieser gleichgültigen, zärtlichen Welt. Die gleichgültige Zärtlichkeit in einer Welt voller zärtlicher Gleichgültigkeit. Die zärtliche Gleichgültigkeit des Wortes. Die zärtliche Gleichgültigkeit der zärtlichen Gleichgültigkeit. Zärtliche Worte für gleichgültige Dinge." Egal, was man im Folgenden aus theoretischer, d. h. distanzierter Sicht über den Roman sagen kann, eins sei hier festgehalten: diesen Wust an Wörtern über 143 Seiten zu lesen, ist entweder sehr hart oder sehr lustig, aber nicht lustvoll.

Der Aufbau des Buches gibt einen Hinweis, wie es gelesen und verstanden werden will. Wie sich im letzten Kapitel, das im Übrigen über weite Teile das erste Kapitel direkt zitiert, herausstellt, fungiert Schubert textimmanent als Autor seiner eigenen Reiseerinnerungen. Dabei liefert er im ersten und letzten Kapitel eine Art 'Beipackzettel', der auf Risiken und Nebenwirkungen des Lesens hinweist: "Ich erwarte kein Verständnis und keine Einsicht. Ich gebe etwas von mir, einen Auswurf, ich werfe den Ballast ab, der mir im Sinn, im Kopf sitzt, der mich vergiftet und ergötzt zugleich." Das Schreiben ist also (zumindest) für Schubert ein Mittel zur Selbstheilung. Am Halbdurchdachten soll ein schizophrenes Gefühl zwischen Ekel und Genuss etabliert werden.

Der von Schubert verfasste Roman im Roman besteht hauptsächlich aus Gesprächen zwischen ihm und Estes, zwei Männern im Urlaub in südlichen Gefilden auf der Suche nach ... Selbstdarstellung? Dem Rausch am eigenen (nicht nur geistig) Erbrochenen oder bloß nach Provokation? Das Ziel dieser Unterhaltungen, die sich normalerweise unter dem Einfluss von sehr viel Alkohol und Nikotin abspielen, bleibt ebenso im Sfumato der Sätze verfangen wie die Sätze selbst. Ein Beispiel: "Der organisierte, funktionierende Wahnsinn meiner Gedanken, die Möglichkeit, Assoziationen anzustoßen, sich forttreiben zu lassen. Ein Konglomerat aus Originalitätswahn und dem Zustand der Erschöpfung. Die Spannung zwischen Individualismus und Umwelt, technologischem Konzept, Einfluss, Engagement, wortgetreuer Befriedigung, Onanie am Wort, Spaß am Sinnlosen, Rückkehr zum Egoismus, zu jenen Mechanismen, die sich in bedeutsamer Bedeutungslosigkeit definieren."

Es gibt keinen eigentlichen Handlungsverlauf und keinen Spannungsbogen. Beides ist vom Autor auch nicht intendiert worden. Dieser Roman stellt somit eine grundlegende Frage, die in Bezug auf Stil und Inhalt bezeichnend für Eisendles Buch ist: "Die Wahrhaftigkeit verhält sich zur Wahrheit doch wie die Freiwilligkeit zur Freiheit. Wie aber, frage ich Sie, verhält sich die Freiheit zur Wahrheit, die Freiwilligkeit zur Wahrhaftigkeit oder gar die Wahrheit zur Ehrlichkeit, die Ehrlichkeit zur Wahrhaftigkeit, die Freiwilligkeit zur Ehrlichkeit, die ehrliche Wahrheit zur wahren Ehrlichkeit, die freiwillige Wahrheit zur wahren Freiwilligkeit, die freie Freiwilligkeit zur freiwilligen Freiheit, die ehrliche Freiheit zur freien Ehrlichkeit?"

Eine Antwort darauf gibt Locke, der seinen "Versuch über den menschlichen Verstand" mit folgendem Motto von Cicero versehen hat: "Quam bellum est velle confiferi potius nescire quod nescias, quam ista effutientem nauseare, atque ipsum sibi displicere." - "Wie schön ist es, lieber sein Nichtwissen einzugestehen, als Dergleichen herauszuschwätzen und sich selbst zu missfallen."

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Helmut Eisendle: Jenseits der Vernunft. oder Gespräche über den menschlichen Verstand. Roman.
Gemini Verlag Diana Kempff, Berlin 2001.
143 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3935978049

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