Drei Revolutionen
Die Geschichte des Lesens
Von Ute Schneider
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin dickleibiger Band soll die »Geschichte des Lesens im europäischen Blickwinkel« rekonstruieren, d.h. die von den westlichen Gesellschaften seit der Antike ausgeprägten Leseweisen in ihren Differenzen und Charakteristika. Kann ein solcher Überblick gelingen? Durch einzelne Fallbeispiele ist immer wieder nachgewiesen worden, daß in der Geschichte des Lesens kaum ein Phänomen verallgemeinert werden darf. Einer der Herausgeber, Roger Chartier, zur jüngsten Generation der Schule der "Annales" gehörend, prägt das theoretische Konzept: Es geht um die Untersuchung von "Lesepraktiken" im europäischen Kontext. Die Benennung von Lesepraktiken birgt den Vorteil, sich nicht ausschließlich in soziologischen oder kulturellen Analysekategorien bewegen zu müssen, sondern deren Grenzen überschreitend Lektürevorlieben und -techniken analysieren zu können. Dementsprechend werden Veränderungen der Lesepraktiken als Revolutionen in der Geschichte des Lesens definiert. Dreimal soll die Geschichte des Lesens von solchen erschüttert worden sein.
Lesepraktiken und Lektüremodelle bilden die Sinneinheit jedes einzelnen der 13 Kapitel. Jesper Svenbro ("Archaisches und klassisches Griechenland: die Erfindung des stillen Lesens") leitet aus dem Vokabular, aus insgesamt zwölf Verben, die im Griechischen zur Bezeichnung des Lesens zur Verfügung standen, unterschiedliche, parallel existierende Leseweisen ab, z.B. kannten die alten Griechen schon die stille Lektüre, was jedoch ein Randphänomen blieb; die Norm war das laute Lesen.
Die Herausbildung eines neuen Buchtyps, des Kodex, der sich zu Beginn des 5. Jahrhunderts endgültig gegen die Papyrusrolle (Volumen) durchsetzte, ist als Reaktion auf gestiegene Nachfrage nach Lektüre, nach Büchern zu verstehen: sparsamer im Schreibmaterial, einfacher und schneller herzustellen als die Rolle, erlaubte er eine größere Verbreitung vorwiegend literarischer Inhalte. Nach Guglielmo Cavallo ("Vom Volumen zum Kodex: Lesen in der römischen Welt") war der Kodex eine römische "Erfindung", der nicht zwingend mit der christlichen Tradition in Zusammenhang steht.
Einen Schwerpunkt des Bandes bilden die verschiedenen mittelalterlichen Lektürepraktiken: "Klösterliche Lektürepraktiken des Hochmittelalters" (Malcolm Parkes), "Das scholastische Modell der Lektüre" (Jacqueline Hamesse), "Lesen im Spätmittelalter" (Paul Saenger), "Das Lesen in den jüdischen Gemeinden Westeuropas im Mittelalter" (Robert Bonfil). Wesentliches Ereignis ist die erste Revolution in der Geschichte des Lesens: das Aufkommen des leisen Lesens im 12. Jahrhundert und das Verschwinden des lauten Lesens. Der rein visuelle Lesevorgang entsteht, der durch die Gliederung von Texten mithilfe der Orthographie und durch eine neue Textorganisation sowie durch das Aufkommen von Worttrennungen und der Interpunktion gefördert wurde.
Die Frühe Neuzeit brachte zunächst keine Veränderung der Lesepraktiken mit sich. Dem gelehrten Lesen ("Der Humanist als Leser" - Anthony Grafton) und dem religiös motivierten Lesen ("Die protestantische Reformation und das Lesen" - Jean François, "Die Gegenreformation und das Lesen" - Dominique Julia) mit seinen jeweils spezifischen Lektürepraktiken stehen im 15. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts die populären Lesestoffe gegenüber: "'Populärer' Lesestoff und 'volkstümliche' Leser in Renaissance und Barock" (Roger Chartier). Chartier stellt die Frage nach den Lektürepraktiken des volkstümlichen Lesers und geht methodisch von den Druckerzeugnissen selbst aus. Aus spezifischen Textgattungen, die in spezifischen Publikationsformen erschienen sind, rekonstruiert Chartier die Lesegewohnheiten des einfachen Volkes, und zwar im interkulturellen Vergleich.
"Gibt es eine Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts?" fragt Reinhard Wittmann. Die vielfach umstrittene und vielfach verteidigte Hypothese des Wandels vom "intensiven" zum "extensiven" Lesen liefert nicht alleine den Impuls, eine zweite Leserevolution in der Geschichte des Lesens zu konstatieren, sondern auch der Anstieg der Buchproduktion, die institutionellen Einrichtungen wie Leihbibliotheken und Lesegesellschaften und nicht zuletzt die Emanzipation des "modernen" Lesers in der Lektürewahl von obrigkeitlichen Anordnungen und Empfehlungen untermauern diese These.
"Die neuen Leser im 19. Jahrhundert: Frauen, Kinder, Arbeiter" (Martyn Lyons) waren ein Resultat der Massenalphabetisierung, die zwar quantitative Veränderungen, aber keine qualitativen, im Sinne einer Leserevolution, hervorbrachte. Den Ausführungen zum 19. Jahrhundert schließen sich direkt Armando Petruccis Betrachtungen über die gegenwärtige Lesekultur an - "Lesen um zu lesen: Eine Zukunft für die Lektüre". Es klafft eine inhaltliche Lücke zwischen 1900 und 2000. Schon früh im 20. Jahrhundert geraten das Buch und das Lesen unter einen enormen Konkurrenzdruck. Beispiel Deutschland: Seit Ende des 19. Jahrhunderts existiert der Film und seit 1923 der Rundfunk, und beide haben Literatur, Buch und Lesen stark beeinflußt, man denke nur an das Aufkommen der literarischen Kleinformen, an typographische Konzeptionen, die das Lesetempo beschleunigen halfen, an die Segmentierung des Lesepublikums in der Zeit der Weimarer Republik und nicht zuletzt an die profitorientierten Bestsellerlisten. All diese Phänomene haben natürlich Einfluß auf Lesepraktiken und Leserhabitus genommen, bleiben hier jedoch vollkommen unberücksichtigt.
Das den Band abschließende 13. Kapitel gerät zum schwächsten des Bandes. Petrucci liefert keineswegs eine zeitgenössische Bestandsaufnahme aktueller Lesepraktiken, geschweige denn ihrer Veränderungen, sondern verharrt in Betrachtungen über den Verlust eines traditionellen Lektürekanons in der westlichen Welt. Zu Recht konstatiert er, daß konsequenterweise das Kaufverhalten der heutigen Leser unberechenbar und "konfus" ist. In völliger Verkennung der Tatsachen charakterisiert er Ostdeutschland als "ehemals ein Paradies des Buchmarktes" und dichotomisiert dagegen den westlichen Buchmarkt als vorwiegend trivial.
Aber nicht nur unter diesen unnötigen Verkürzungen leidet der Beitrag des Italieners. Unter "Bildschirm" fällt ihm anscheinend nur das Fernsehen ein, dessen "Kanon" von Sendungen einer weltweiten ideellen Vereinheitlichung Vorschub leistet. Nun fragt der interessierte Leser, wie sich denn die von den Herausgebern in der Einleitung des Bandes konstatierte 3. Leserevolution darstellt, die aus der elektronischen Darbietung von Texten resultiert. Wie verändern sich die Lesepraktiken? Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Reflexionen über die Veränderungen der Lesetechnik in den elektronischen Medien, beispielsweise über den Wandel vom linearen Lesen hin zum assoziativen Lesen im Hypertext, bleibt der Autor schuldig.
Verdienstvollerweise ist im vorliegenden Band drastisch deutlich geworden, daß kulturgeschichtliche Entwicklungen, geistes- und religionsgeschichtliche Einflüsse wesentlich stärkere Wirkung als technische Veränderungen, wie die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Bleilettern, auf die europäische Lesekultur hatten. Ob das auch noch für die elektronischen Innovationen gilt, bleibt abzuwarten. Die Bibliographie im Anhang des Werkes beschränkt sich auf das Allerwesentliche, was angesichts der gesamteuropäischen Sichtweise gerechtfertigt ist.