Bruchstücke

Stefan Chwins opulenter Roman "Die Gouvernante"

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich ist der Titel irreführend, denn eigentlich ist die Gouvernante gar keine zentrale Figur in Stefan Chwins neuem Buch.

Esther Simmel kommt um 1900 nach Warschau, um in der Wohnung der Celinskis den jungen Andrzej zu unterrichten. Er verliebt sich in sie, wie sein älterer Bruder Aleksander, der die Geschichte erzählt, wie die gesamte Familie überhaupt, die von Esther gleichsam bezaubert ist, da die junge Frau sie mit ihrer Anwesenheit entführt in ferne Welten, nach Paris, Wien oder Danzig. Städte, die durch Esthers Erzählungen viel näher scheinen als vorher. Dann wird die junge Frau schwer krank. Versinkt in einen Schlaf, aus dem sie nicht mehr zu erwachen scheint. Und plötzlich ist das Leben wieder kalt und grau wie vorher, sind Krankenhaus und Ärzte so nah wie in den schönen Zeiten die fernen, fremden Städte.

Und so stößt die titelgebende Gouvernante die Handlung lediglich an, die dann weiter ohne sie abläuft, scheinbar unaufhaltsam, sich um sie dreht, während sie selbst in dornröschengleichem Schlaf liegt: Aleksander fängt die Briefe ab, auf die die schöne Schlafende zuvor vergeblich gewartet hatte, unterschlägt die Schriftstücke, um seine Geliebte quasi festzuhalten, ihr näher zu sein und ihre unnatürliche Krankheit zu verstehen. Jemand schreibt ihr von Friedrich Nietzsche, dass er wahnsinnig geworden sei. Aleksander liest in "Also sprach Zarathustra", zitiert, versucht zu begreifen.

Andrzej verzweifelt an Gott, den er für schuldig an der rätselhaften Krankheit der Lehrerin hält, wirft einen Stein auf die wundertätige Madonna, die ihm ein Wunder verwehrt hat. Aleksander wird daraufhin erpresst: Ein Vagabund droht, seinen Bruder, den bis dahin niemand verdächtigt hatte, zu verraten. Die Wut der Stadt richtet sich gegen den Jungen und seine Familie, als der Erpresser sein Geheimnis preisgibt, scheinbar um Aleksander eine Lehre zu erteilen. Doch dann glätten sich die Wogen wieder. Und das Leben geht weiter, lässt sich nicht aufhalten. Esther, endlich wieder erwacht, geht zurück nach Wien, die Familie verlässt später Warschau, der Krieg beginnt...

Das alles klingt nicht spektakulär, ist es auch nicht. Aleksanders Erzählung ist eine kleine, stimmungsvolle Geschichte. Ohne sich schnell entwickelnde Sequenzen, ohne rasche Szenenwechsel, ohne große Überraschungen. Dafür eine Geschichte, die wie ein langer, ruhiger Fluss von prächtigen Bildern am Leser vorüberzieht. Man denke an verblassende Fotografien, solche, wie sie immer wieder im Roman auftauchen, wo sie Erinnerung sind und Zeichen des Festhaltens: sepiafarben und unveränderlich und in einer entrückten Weise wunderschön. So genau geschildert und so liebevoll beschrieben sind dabei die Stadt, die Landschaft und die Menschen, dass man sich ans alte Warschau zu erinnern glaubt, als kenne man es selbst, als sei man selbst einmal durch die regennassen Straßen gegangen zur Ulica Nowogrodzka 44, sei selbst die Treppen hinaufgestiegen zur Wohnung der Celinskis, um Fräulein Esther zu begrüßen:

"In einem feinen Regen enthüllte die Welt ihre beschämenden Flechten und Narben, hinter der Fensterscheibe zerliefen die Konturen der gegenüberliegenden Häuser, in den Wolken über der Kuppel von St. Barbara glomm eine gelbliche Sonne, so schwach, als wollte sie jeden Augenblick für immer verlöschen."

Die Schönheit des Buches liegt vor allem in solchen Schilderungen, in der Ausdrucksfähigkeit Chwins. Immer wieder überrascht der Reichtum an Bildern, an Vergleichen. Stoffe verwandeln sich in "Ströme von Falten und Spitzen", Häuser "segeln durch das Meer der Stunden", Frauen werden angesehen als seien sie "sich nähernde Sonnen". Das alles wirkt seltsam fremd und beinahe altmodisch - und doch irgendwie betörend. Chwins Sprache mag gut übersetzt worden sein oder auch nicht, auf jeden Fall ist sie es, die den Leser in ihren Bann schlägt. Was auch die Frage beantwortet, wer denn nun die Hauptrolle spielt in "Die Gouvernante". Wo sie manchmal auch mehr Aufmerksamkeit zu beanspruchen scheint, als ihr ,zusteht'. Dann werden die opulenten Szenen, die detailgenauen Beschreibungen erdrückend, man mag fast gar nicht mehr weiterlesen, fühlt sich beinahe erschlagen von so viel Information, wünscht sich etwas mehr Nüchternheit. Doch diese Momente sind selten und fallen wenig auf beim Lesen, das mehr Sehen (oder Zu-sehen-glauben) und Träumen ist als irgendetwas anderes.

Titelbild

Stefan Chwin: Die Gouvernante.
Übersetzt aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000.
316 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3871344087

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