Goethe bleibt ambivalent
Vorträge zum Thema "Goethes Begegnung mit Juden und Judentum"
Von Almut Berchtold
Goethe und die Juden: ein scheinbar nebensächliches Thema im weiten Feld der Auseinandersetzungen mit dem großen Dichter und seinem Werk. Dennoch gibt es genügend Gründe für eine gründliche Untersuchung der Thematik, führt sie doch das deutsche Dichtergenie mit dem für die deutsche Geschichte heikelsten Thema zusammen. Aber nicht der Holocaust ist Ausgangspunkt der Untersuchungen. Goethes Geburtsstadt Frankfurt am Main besaß zu Goethes Zeiten eine der größten jüdischen Gemeinden in Deutschland, welche allerdings auf engstem Raum im Ghetto, der Judengasse, eingeschlossen lebte. Diese und auch das öffentlich ausgestellte, antisemitische Gemälde der 'Judensau' waren Goethe bekannt. Seine spärlichen und vor allem fragwürdigen Aussagen über die Judengasse und Juden allgemein erwecken schon lange das Interesse der Forschung. Zeitgeschichte und Goethe als einflussreiche Persönlichkeit machen eine Beschäftigung mit Goethe und dem Judentum weiterhin unerlässlich.
Eine unendliche Vielfalt an Untersuchungsmöglichkeiten zu dem Thema beweist das Symposium, welches anlässlich des Goethejahres 1999 in dessen Geburtsstadt Frankfurt am Main im jüdischen Museum stattgefunden hat. Annette Weber, Kunsthistorikerin des Museums, hat die Vorträge in einem überschaubaren Band zusammengestellt. Schon der Titel des Symposiums "Außerdem waren sie ja auch Menschen", ein Zitat aus Goethes Autobiographie "Dichtung und Wahrheit", zeigt die Ausgangslage der Forschung und bleibt dem Leser des Buches auch als Grundtenor im Ohr: Goethes Aussagen zu Juden und ihrer Religion sind "ambivalent und schwankend" (Wilfried Barner). Eine eindeutige Interpretation der tatsächlichen Haltung des Dichters konnte auch dieses Symposium, welches durchaus neue Aspekte zur Forschung beitrug, nicht leisten.
Aber gerade das offene Ergebnis macht den Reiz des Buches aus. Hier wird nicht versucht, ein zwanghaft fixiertes Bild Goethes zu liefern. Goethe darf als historische Person, ohne Erhebung durch sein dichterisches Werk, Mensch sein. Und zwar Mensch seiner Zeit. Die Referenten sind bei ihrer Themenwahl aufs Äußerste darauf bedacht, die Frage nach Goethe und dem Judentum in seinen genauen historischen Kontext zu betten. Dadurch wird nicht nur Goethe aus einem anderen Blickwinkel - ganz und gar unheroisch - beäugt, man erfährt auch zahlreiche, wissenswerte Einzelheiten über die jüdische und christliche Religion sowie Lebensumstände und Rechtslage in Frankfurt zur Goethezeit. Diese vielfältige Beleuchtung der Person Goethes und der Sozialgeschichte seiner Zeit sowie gerade die Offenheit der Aufsätze gibt Anregung, Altes zu überdenken und neue Fragen zu formulieren.
Sieben Aufsätze beleuchten unterschiedliche Gesichtspunkte des weit gefassten Themenkreises. Um einen Einblick zu bekommen, ist die Einführung hilfreich, welche die Aufsätze thematisch kurz vorstellt. Einige Vorträge erwarten vom Leser ein relativ hohes Maß an Fachkenntnis. Vertrautheit mit Namen und Werken im Umfeld Goethes und der Forschung sind unerlässlich. Denn das Buch gibt keine grundlegende Einführung in die Thematik, sondern eher in die Problematik. Es stellt den Leser vor ein Meer von unerforschten Gebieten, so dass der Wunsch nach Frage- und Diskussionsmöglichkeiten, wie es der Rahmen des Symposiums sicherlich besser bot, beim Lesen stetig wächst.
Das Buch ist ein 'Patchwork' aus unterschiedlichen Aspekten zum Thema Goethe, Juden und Judentum. Die Aufsätze stehen für sich, kommen aber immer wieder auf ähnliche Bereiche zurück und ergänzen sich schlüssig, ohne Gesagtes zu wiederholen. Goethes Äußerungen über die Judengasse und die Juden selbst in "Dichtung und Wahrheit" sind ein häufiger Ausgangspunkt für weitere Überlegungen. Aber gerade dieser Text wird von fast allen Referenten äußerst kritisch herangezogen. Die ambivalenten Aussagen gelten heute mehr als Fantasie-Produkt denn als Zeitzeugnis. So stützen sich die Referenten, mit Ausnahme von Jürgen Stenzel, der ein weiteres Werk Goethes, "Die Judenpredigt", unter die Lupe nimmt, auf andere Möglichkeiten, sich dem Thema zu nähern. Hierbei spielen Hintergründe zur religiösen und politischen Situation, vor allem in Frankfurt, eine große Rolle. Durch umfassende Studien zum Umfeld Goethes wird festgestellt, was Goethe an fortschrittlichem (z. B. Lessing) und traditionellem Denken (z. B. Beschreibungen aus Büchern) hat mitkriegen können, wie weit er auch mit den Vorurteilen seiner Zeit behaftet war, und wie sich seine politische und rechtliche Einstellung zur Entwicklung der Judenemanzipation verhielt. Hierbei erweist sich der Vortrag von W. Daniel Wilson als wichtige Studie, welche den Leser bereits mit dem politischen Goethe als Grundlage zum Verständnis der Judenfrage vertraut macht. Hans Otto Horch, Wilfried Barner und Willi Jasper betrachten das Thema aus einer ganz anderen Perspektive: Goetherezeption von jüdischer und deutsch-nationaler Seite. Wie sahen die Juden Goethe? Wie wurde Goethe zum nationalen Kulturhelden und wie hängen Goetherezeption und Antisemitismus zusammen? Auch hier bleiben viele Fragen offen. Verklärung und Illusion, so zeigen die Referenten, scheinen meist über Goethes politische Haltung hinweggesehen zu haben, gerade auch von Seiten jüdischer Goetheverehrer. Dass Goethe selbst an seiner eigenen Rezeption entscheidend mitwirkte, ist bereits bekannt. Was aber hat das daraus resultierende, lang entwickelte Goethe-Bild und vor allem auch die Faustrezeption zur Förderung von Ausgrenzungen anders Denkender beigetragen? Hier wird die Problematik verwirrend und einige Aufsätze scheinen den Faden in weiterführenden Themen zu verlieren. Gerade wenn es darum geht, das nationale Goethe-Bild in seiner Funktion für antisemitische Strategien zu schildern, wird klar, wie verwickelt und weitläufig das Thema Goethe und Judentum gerade nach dem Tod des Dichters noch ist.
Das etwas unbefriedigende Gefühl, am Ende des Buches kein Ergebnis in den Händen zu halten, wird durch Annette Webers anregenden Kommentar beruhigt: Das Symposium habe eher "neue Perspektiven zum Verständnis Goethes als historische Persönlichkeit" gebracht und bewiesen, dass noch vieles unerforscht sei. Wer sich mit einem solchen Fazit zufrieden geben kann, den bringt das Buch entscheidend weiter.