Influenza in Zeiten des Krieges

Gina Kolata auf der Jagd nach dem Grippe-Virus

Von Manu SlutzkyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manu Slutzky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anthrax-Erreger in der Post, Milzbrand in den Lungen, ein Vogelgrippevirus, das in Hongkong auf einen dreijährigen Jungen überspringt, das Aids-Virus, das Afrika entvölkert - wir leben in gefährlichen Zeiten. Wir wissen nicht, wann die nächste Pandemie ausbricht und wie sie die Weltbevölkerung bedrohen wird, doch dass sie kommt, halten nicht wenige Mikrobiologen und Epidemiologen für absehbar und wahrscheinlich.

Der Ernstfall kann böse Folgen haben, wie im Frühjahr 1918: Damals tritt in Spanien eine epidemische Grippe auf; sogar der König soll von ihr ergriffen sein. Das Fieber steigt auf 40 Grad, Abgeschlagenheit, Frostgefühle, Kopfweh, Halsschmerzen, Schüttelfrost sind weitere Symptome. In Deutschland erkranken Anfang Juli 800 Bedienstete der Frankfurter Post, so dass der gesamte Brief- und Telegrafenverkehr zum Erliegen kommt. Erst wird die "neumodische Plage" nicht recht ernst genommen, zumal sie nach kurzer Zeit wieder abklingt. Doch dann kommt sie wieder: Im Herbst desselben Jahres bricht sie sich wellenartig und in bisweilen explosionsartigen Ausbrüchen Bahn. Sie verbreitet sich mit nie dagewesener, beängstigender Gewalt. Die Menschen sterben innerhalb weniger Stunden oder Tage - auf dem Lande ebenso wie in der Stadt, weltweit und in allen sozialen Schichten. Ganze Familien werden dahingerafft, Ortschaften entvölkert, Betriebe aufgegeben. In manchen Regionen kann das Vieh nicht mehr versorgt, die Ernte nicht mehr eingebracht werden. Die Grippeseuche legt den öffentlichen Verkehr ebenso lahm wie die städtischen Verwaltungen und Schulen. Viele glauben, der Schwarze Tod, die Cholera oder die Pest seien ausgebrochen.

Was wusste man schon? Das Elektronenmikroskop, das Viren sichtbar macht, war noch nicht erfunden. Man war lediglich in der Lage, Viren mit Hilfe eines feinen Siebes zu isolieren. Man begann mit Experimenten, sogar am Menschen, um die Grippe als Virusinfektion nachzuweisen.

Merkwürdigerweise werden 1918 vor allem die jungen und kräftigen Männer und Frauen tödlich erfasst. Die Spanische Grippe beeinträchtigt das öffentliche Leben, die Politik, die Welt der Kunst. Prinz Max von Baden, der Kanzler des Deutschen Reiches, erkrankt an ihr, Franz Kafka und ebenso Martin Buber sind betroffen. In Wien stirbt am 31. Oktober Egon Schiele, eines der prominentesten Grippe-Opfer. In Deutschland werden über 300.000 Menschen dahingerafft, aber die meisten Toten verzeichnet Asien. Weltweit erkranken 700 Millionen Menschen, zwischen 20 und 40 Millionen sterben, so schätzt man.

Die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Gina Kolata hat ihr Buch "Flu" bereits vor zwei Jahren im New Yorker Verlag Farrar, Straus und Giroux vorgelegt. Die deutsche Übersetzung von Irmengard Gabler erscheint zu einer Zeit, in der Seuchen und Epidemien verstärkt wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt sind. In Amerika werden Postämter, Verlage und Nachrichtenagenturen gezielt mit Milzbranderregern beschickt, Klimaanlagen (eine 'Pest' ganz eigener Art) und der moderne Warenverkehr verteilen sie schnell und gleichmäßig. Und wie bei der Grippe anno 1918 hält man auch diese Milzbrandfälle zunächst für eine "schreckliche neue Kriegswaffe".

Im September 1918, als die tödliche Seuche ausbricht und die entlegensten Regionen der Erde erreicht, weiß man sich nicht zu helfen. Die Gesundheitsbehörden verteilen Gazemasken, und selbst Baseball-Spiele werden mit Mundschutz ausgetragen. Führende Virologen in den USA identifizieren den Virus als Schweine-Influenza oder glauben, der Pfeiffersche Bazillus sei für die Grippe verantwortlich. Doch diese gibt ihr Geheimnis nicht preis - noch sind die Fähigkeiten von Forschung und Medizin nicht fein genug. Erst 1933 wird der Grippevirus entdeckt, und seit 1968 erst kennt man die Gene der menschlichen Grippe. Doch bis vor kurzem, bis 1997 im Grunde genommen, wusste man nicht, weshalb die Grippe von 1918 so verheerende Folgen hatte.

1950 begann Johan V. Haltung, ein schwedischer Pathologe in Iowa, sich für den Grippevirus von 1918 zu interessieren. Seine Idee: Er wollte in den Dauerfrostgebieten Alaskas nach Grippeopfern graben und ihren gefrorenen Leichnamen Gewebeproben entnehmen. In Brevig wurde er fündig, doch gelang es ihm nicht, den Virus zu isolieren und zu reaktivieren. Hultin aber blieb interessiert, sammelte alle wichtige Forschungsliteratur und wartete auf seine Stunde. Sie kam fast fünfzig Jahre später, als der Plan zu einer neuen Expedition bekannt wurde. Hultin setzte sich mit Jeffrey Taubenberger vom Armed Forces Institute of Pathology in Washington D. C. in Verbindung und bot ihm an, erneut nach Brevig zu reisen. Dieses Mal hatte er durchschlagenden Erfolg.

Gina Kolata weiß ihren Stoff spannend aufzubereiten und zu erzählen. Sie bietet in ihrem Buch zahlreiche historische Vergleichsfälle auf, die Grippe-Epidemie von 1789 etwa oder die Cholera von 1818, an der auch Hegel starb. Doch niemals ist ihr Buch reißerisch oder hysterisch. Vielmehr fragt Kolata nach den Ursachen, weshalb diese größte Tragödie in der Kulturgeschichte der Seuchen so gänzlich in Vergessenheit geraten konnte. Die Geschichtsschreibung vergaß die Grippe von 1918, obwohl ihre sozialen Folgen beispiellos waren, obwohl Millionen von Kindern zu Waisen wurden und zahllose Familien zerstört worden sind. Ein Grund dafür könnte sein, dass die weltpolitische Lage alle Aufmerksamkeit der Geschichtsschreibung auf sich gezogen hat. Dabei verschärfte die Grippe die Folgen des Ersten Weltkriegs noch: Wo Menschen dicht gedrängt lebten, in den Städten, in den Fabriken und Kasernen, in den Ausbildungs- und Gefangenenlagern, waren die Auswirkungen in kurzer Zeit derart verheerend, dass selbst eine menschenwürdige Entsorgung der Leiber unmöglich wurde. In manchen Ortschaften der Inuit in Grönland wurden die zu Eis gefrorenen Leichen gestapelt, in wärmeren Regionen wurden Massengräber ausgehoben. Ärztliche und krankenschwesterliche Hilfe beschränkte sich auf palliative Handreichungen, und die Angst und die Ohnmacht, mit der selbst die Fachkräfte konfrontiert waren, galt es wohl irgendwie zu verdrängen. Doch das Vergessen schützt uns nicht: die Grippe kommt wieder und überrascht uns turnusmäßig alle zehn bis elf Jahre mit einem neuen Grippestamm. Hoffen wir, dass die Zukunft harmlosere Varianten für uns bereithalten wird.

Titelbild

Gina Kolata: Influenza. Die Jagd nach dem Virus.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Irmengard Gabler.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
352 Seiten,
ISBN-10: 3100383206

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