Erfolgsmodell ohne Erfolge

Hans-Ulrich Wehler skizziert den Nationalismus

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist Nation? Wohl immer noch im Alltagsverständnis verankert, dominierte lange Zeit auch in der Wissenschaft die Anschauung, Nation sei eine naturgegebene Einheit, die sich dann irgendwann einen ihr entsprechenden Staat schaffe. Forschungen vor allem aus dem angelsächsischen Raum, etwa von Benedict Anderson, Ernest Gellner und Eric Hobsbawm, drängten in den achtziger Jahren diese Auffassung zurück. Nun gilt Nation als etwas, das erst politisch geschaffen werden muss; nicht die Nation bringt die Nationalisten hervor, sondern die Nationalisten stellen die Nation her.

Hans-Ulrich Wehler setzt mit seiner Darstellung des Nationalismus an genau dieser Wendung ein und nimmt derart gleich anfangs den Begriffen Nation und Nationalismus ihre scheinbare Selbstverständlichkeit. Deutlich hebt er die Vorzüge der neueren Theorie hervor; freilich relativiert er zum einen ihren Neuigkeitswert dadurch, dass er auf wichtige Vorläufer, vor allem auf Max Weber, hinweist. Zum anderen warnt er vor einer konstruktivistischen Überspitzung, die eine Nationwerdung rein als Sprachspiel begriffe, ohne auch die materiellen Bedingungen in den Blick zu nehmen.

Die Reihe Wissen des C. H. Beck Verlags bringt knapp gefasste Einführungen; neue Forschungsergebnisse sind also genrebedingt nicht zu erwarten. Das kompakte Vorwort zeigt die Qualitäten von Wehlers Zugriff: eine konzentrierte Darstellung, die jedoch nicht nur referiert, sondern eigene Wertungen deutlich ins Spiel bringt. Die folgenden Abschnitte entsprechen diesem Muster.

Wehler zeigt den Nationalismus als eine okzidentale Besonderheit, die nur spät, auf breiter Front erst im 20. Jahrhundert andere Weltgegenden erfasst. Einem historischen Teil zum frühen westlichen Nationalismus, der sich in Revolutionen in England 1649, Nordamerika 1776 und Frankreich 1789 herausbildete, folgt eine strukturanalytische Darlegung des nationalistischen Ideenfundus. Hier zeigt Wehler die enge Verbindung von Nationalismus und Religion und hebt hervor, wie Nationalismus stets sich durch Abgrenzung von einem als minderwertig aufgefassten Anderen konstituiert. Der Nationalismus stützte sich auf vornationale ethnische Abgrenzungen und transformierte sie, seine ersten Träger waren vielfach bürgerliche Intellektuelle und später überhaupt das Bürgertum. Doch gerade da, wo ethnische Unterdrückung lange andauert, vermag der Nationalismus alle Bevölkerungsschichten zu erfassen. Nicht nur darin erweist sich seine Flexibilität und damit der Grund seines Erfolgs, sondern auch, indem er sich durch die Aufwertung der Volkssprache in sich modernisierenden Gesellschaften, die immer mehr Begabungsressourcen erschließen müssen, mit der Ausweitung von Bildung verbindet, indem er eigene Märtyrer, eine eigene Ästhetik von Umzügen und Denkmälern sowie eine eigene Festkultur schafft und zudem die kulturellen Zeugnisse der Vergangenheit zu Belegen eines Nationalcharakters uminterpretiert, die möglichst denen der Konkurrenten überlegen sein sollen.

Der folgende Abschnitt zu "Typologien des Nationalismus" löst in der Konsequenz dieser Gemeinsamkeiten die Entgegensetzung eines zivilgesellschaftlich-demokratischen, westlichen Modells von Nation einerseits und eines völkischen Modells in Mittel- und Osteuropa auf. Wehler modifiziert und historisiert diese Typen, indem er vier Formen unterscheidet, die - Ausnahmen zugestanden - in einer historischen Abfolge stehen. In Nationen der ersten Gruppe findet eine revolutionäre Umgestaltung innerhalb eines bestehenden politischen Verbands statt; Beispiele wären England, Frankreich und -problematischer - die amerikanischen Kolonien Englands, die zu den USA werden. Es folgen die Vereinigungs-Nationalismen etwa Deutschlands oder Italiens, durch die vorher bestehende Staaten zu einem Gebilde zusammengefügt werden. Dritter Typ sind die Sezessionsnationalismen, die zu einem Staat führen, der sich aus einem übernationalen Ganzen löst. Wehler nennt etwa die Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns nach 1918 und könnte sich auch auf die Zerstörung der Sowjetunion oder Jugoslawiens beziehen, die in diesem Punkt sein Modell der zeitlichen Abfolge relativieren würde. Letzte Form ist dann der Transfernationalismus, durch den außereuropäische Ethnien das europäische Modell sich aneignen und der nur ausnahmsweise wie etwa in Japan sich auf tradierte Einheiten stützt; meist entstehen instabile Gebilde ohne jegliches historisches Vorbild.

Im umfangreichsten Teil des Buches untermauert Wehler seine Einteilung mit geschichtlichen Beispielen. Anhand des amerikanischen Nationalismus, der mit quasi-religiösem Sendungsbewusstsein von wenigen Ostküsten-Provinzen ausgehend eine Dominanz zuerst über den Kontinent, später dann über die ganze Welt beansprucht, dementiert er die Legende vom allein auf demokratische Teilhabe der Staatsbürger gerichteten westlichen Nationalismus. Die zerstörerischen Tendenzen des deutschen Nationalismus, dessen Darstellung mehr als ein Viertel des Buches einnimmt, sieht Wehler zu Recht früh ausgeprägt. Dieser Strömung, die vom 19. Jahrhundert an große Teile der Bevölkerung erfasst, schreibt Wehler auch die zentrale Bedeutung für den Aufstieg der NSDAP zu; nicht, wie Goldhagen meint, der Antisemitismus, sondern der bis Stalingrad erfolgreiche Nationalismus sei das wichtigste integrierende Moment gewesen.

Etwas flüchtig sind die Sezessionsnationalismen und Transfernationalismen der folgenden Phasen abgehandelt; immerhin haben sie Großmächte wie Japan und wohl künftig China und Indien hervorgebracht, leben in den Grenzen der weniger erfolgreichen osteuropäischen oder afrikanischen Versuche zahlreiche Menschen. Diese Sicht fügt sich gut zu Wehlers Schlussteil, in dem er Erfolge und Perspektiven des Nationalismus benennt und geringschätzt. Auf der Habenseite verbucht er allenfalls mit den Nationalsprachen und der aus ihnen hervorgehenden Nationalliteraturen einen kulturellen Gewinn, dem die oft entschiedene Wendung gegen das Fremde gegenübersteht. Häufig dem Nationalstaat zugeschriebene Resultate wie die Industrialisierung, die Entwicklung sozialer Absicherungen wie demokratischer Rechtssicherheit sieht Wehler nicht an die Nation gebunden und belegt dies mit überzeugenden Beispielen.

Wehler bildet präzise Begriffe und erhärtet sie in kenntnisreichen historischen Analysen; das sind die Stärken seines Buchs. Schwächen zeigen sich, was den Beginn und was das postulierte Ende des Nationalismus angeht. Die Frage, weshalb der Nationalismus lange Zeit auf Europa und Nordamerika beschränkt war, beantwortet er damit, dass nur im "Westen" die Legitimationskrisen auftraten und die Ideen existierten, die seine Voraussetzung waren. Auch außerhalb Europas indessen gab es Legitimationskrisen und Ideen zu ihrer Überwindung - Wehlers Antwort ist seine Frage in anderer Gestalt. Vermutlich führt die funktionalistische Argumentation Ernest Gellners, der den Nationalismus mit den Formierungsbedürfnissen einer sich industrialisierenden Gesellschaft zusammenbringt, weiter.

Auch das optimistische Schlusswort überzeugt wenig. Wehler setzt auf die Lernfähigkeit der Bevölkerungen und sieht deshalb den Nationalismus schon weitgehend diskreditiert. Angesichts fortdauernder ethnischer Konflikte lehnt er nationalistisch begründete Abspaltungen, die unvermeidlich neue Minderheitenprobleme hervorbringen, ab. Als Alternative fordert er Autonomieregelungen innerhalb bestehender Staaten und damit die Überwindung des Nationalstaats.

Funktionieren dürfte das kaum: Volksgruppenrechte zwingen zur ethnischen Klassifikation. Resultat von Autonomie ist gerade nicht der durch abstraktes Recht definierte Staatsbürger, sondern der Volksgenosse, der in einer bis auf weiteres durch Nationalstaaten bestimmten Ordnung auf Unabhängigkeit bedacht sein muss, hat er nicht das Glück, auf einer der wenigen Wohlstandsinseln zu leben. Werden derart Spaltungen zementiert, sind konkurrierende Nationalstaaten zur Intervention geradezu eingeladen. Der Nationalismus wird deshalb nicht überwunden, indem man ein nur scheinbar dem Nationalen vorgelagertes Ethnisches anerkennt, sondern indem jeder Bewohner zum Staatsbürger jenseits tradierter Bindungen wächst.

Das ist kaum in Sicht. In den zahlreicher werdenden Bürgerkriegsregionen streben ethnische Gruppen danach, Nationalstaaten zu gründen oder zu kontrollieren. Die neuesten Militärinterventionen des Westens werden nicht von übernationalen Organisationen durchgeführt oder verantwortet, sondern von Nationalstaaten in je wechselnden Interessen- und Bündniskonstellationen; der Bedeutungsverlust der UN und selbst der NATO ist offensichtlich. Wehlers Buch bleibt damit aktueller als er selbst zu hoffen wagt.

Titelbild

Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen.
Verlag C.H.Beck, München 2001.
122 Seiten, 7,60 EUR.
ISBN-10: 3406447694

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