Kreise und Kugeln

Peter Sloterdijks große Kulturgeschichte der Lebens- und Seelenräume

Von Alexandra HildebrandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Hildebrandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon in seinem ersten philosophischen Meisterstück, das den damals nahezu unbekannten und außerhalb der akademischen Institutionen arbeitenden Privatgelehrten gleichsam über Nacht berühmt machte, hatte Peter Sloterdijk nicht weniger als die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit seit der Antike im Blick. Er strukturierte sie mit zwei entgegengesetzten Begriffen, die sich nur in einem Buchstaben unterschieden: Zynismus und Kynismus. Mit ähnlicher kulturhistorischer Kühnheit geht der erste Band von Sloterdijks zweitem Großprojekt, der Trilogie "Sphären", bis zur Urgeschichte der Menschheit zurück. Er handelt von der Geburt des Menschen (des klimatisierten Tieres) und vom Drama der "Umsiedlung" unserer Seelen. Es gehört offenbar zum Leben, so legt der Band dar, daß wir beseelte Räume immer wieder unter Schmerzen verlassen müssen, ohne die Gewißheit, ob ein Zusammenleben in neuen Räumen möglich ist.

Im zweiten, den "Makrosphären" gewidmeten Band "Globen" versucht der mittlerweile in den Hochschulsphären von Karlsruhe und Wien etablierte Philosoph seine These weiterzuentwickeln: Alle Geschichte sei die Geschichte von großpolitischen und sozialen "Sphärenerweiterungskämpfen". Erweiterungen vollziehen sich, wenn vormals Äußerliches oder "Außengewalten" von der kleineren Sphäre oder der alles beseelenden und bergenden Kugel aufgenommen, das heißt in ihren eigenen Radius eingebaut werden kann und in ihm sich umdeuten läßt zu einem "Faktor ihrer Spannkraft und ihrer überhöhten Wölbung". Um diese Vorstellung plausibel zu machen, verweist Sloterdijk darauf, daß Sphären "lernfähige Gebilde, gleichsam übende Immunsysteme und Behälter mit wachsenden Wänden" sind.

Die morphologischen Leitbilder dieses zweiten philosophischen Meisterstücks sind der Globus und die Kugel. Die Kugel ist das "Ungewordene, Elternlose, Ungezeugte, das aus sich selber Sein und Bestand hat". Als vollkommene Schönheit heißt die älteste Kugel kósmos. Sie ist der allumspannende Himmel. Für die Alten galt sie als Emblem des allumfassend göttlichen Seins. Die Kugel will betrachtet, verehrt, berechnet und vollzogen werden. Ihr Innenraum verlangt nach einem kongenialen Geist, der ihn beleben soll. So verglich auch Goethe das Glück einmal mit einer Kugel: "Ruhig vor Augen stehend zeigt die Kugel sich dem Betrachtenden als ein befriedigendes, vollkommenes, in sich abgeschlossenes Wesen."

In den ersten Kapiteln vertieft sich Peter Sloterdijk in die embryonalen Stadien des unendlich in sich selbst zurücklaufenden "All-Einen" und sieht seinem Wachstum zu. Wie bereits seine mikrosphärologischen Untersuchungen des ersten Bandes erläuterten, war von hellenistischer Zeit an die göttliche, allumfassende griechische "sphaira" ("das Eine als Gestalt") zur geläufigen "Hieroglyphe des gesamten Weltganzen und vor allem des Himmels", zum (metaphysischen Denk-)Bild der kosmischen Totalität geworden. In diesem Zusammenhang kommt auch das "Gehäuse-Phänomen" Stadt zur Sprache: Sie stellt gewissermaßen die "gelandete Arche" dar, deren Heil sich nunmehr auf der Erdoberfläche verankert. Die Grundthese lautet, daß Stadtabgrenzungen immunologischen Sinn haben. So seien die altmesopotamischen Mauerwerke "morphologische Experimente über die Möglichkeit, eine Großwelt als selbstbrütende Innen- und Eigenwelt herzustellen."

Sloterdijk versteht die Mauern in ihrem Übermaß als gestalthafte "immunologische Phänomene und politische Leibeshöhlenphantasmen". Das bergende Haus - immer auch eine Morphose des "Mutter-Raums" - sei der bedeutendste Raumgedanke der Menschheit, "weil es die leistungsfähigste Übergangsgestalt zwischen der ursprünglichen Seinsweise der Menschen in wandlosen Selbstbergungen und dem modernen Aufenthalt in entseelten Gehäusen darstellt." Indem Sloterdijk die kosmischen Sphären als "Hauswände des Seins" interpretiert, zeigt er, worin die kulturgeschichtlich übermächtige Denk- und Bau-Figur des Hauses ihren Grund hat. Nichts ist demnach in der Architektur, was nicht zuvor in den "Immunideen" gewesen ist.

Indem die nachkopernikanischen Kosmologen die Planetenschalen und das Firmament zu Fall brachten, haben sie die Erde "exzentrisch" gemacht und sie "einer kosmischen Haltlosigkeit überlassen", auf die kein Mensch vorbereitet war. Außer Zweifel steht für den umstrittenen Philosophen, daß die selbstgefährdeten Menschen "für erkältende Erkenntnisse dieses Typs nicht geschaffen sind". Unterstrichen wird deshalb die Notwendigkeit, daß sie sich kraft ihrer "erfinderischen Selbsthilfe" gegen die neuzeitliche Immunschwäche behaupten sollen.

Obwohl Sloterdijk, der in seinem lesenswerten Reiseroman "Der Zauberbaum" der Vorgeschichte der Psychoanlyse nachgegangen war, am siegesgewissen "Unternehmen" des "Entdeckers" und "Landnehmers" Sigmund Freud harsche Kritik übt, wimmelt das Buch nur so von parafreudianischen Formeln. Da heißt es zum Beispiel: "Wo bloße Umgebung war, soll die Kugel werden." Oder: "Wo Paarseele war, soll Weltseele werden." Außerdem: "Was Böses war, soll Heiliges werden." Und schließlich: "Wo Ich war, soll Er werden." Sigmund Freud wird vor allem vorgeworfen, daß er sich auf seinem eigenen Weg zum Ruhm für das "wahre innere Afrika" in der Psyche jedes Menschen entschieden habe. Mit der Wahl seiner Forschungsrichtung hätte der unanalysierte "Prophet des Unbewußten" nämlich einen "vorzüglichen imperialen Instinkt" bewiesen, denn er reklamierte für sich "den" zentral gelegenen Kontinent schlechthin. Noch gegenwärtig seien die alten "Freudschen Landmarken" vielerorts sichtbar. Man mag darüber spekulieren, ob sie dauerhaft von mehr als "touristischem Interesse" bleiben werden. Sloterdijk widerspricht auch dem von Freud lancierten Mythos von der sogenannten kosmologischen Kränkung des menschlichen Narzißmus. Dieses "Märchen", verstanden als Mißverständnis oder eine "interessierte Irreführung", sei weltgeschichtlich leer und gehöre ausschließlich zur "Selbsterhöhungsstrategie der psychoanalytischen Bewegung". Darüber hinaus hätten die Freudianer in ihrem "Schulnebel" die historische Dimension und logische Struktur ihres Hauptbegriffs verloren. Sie wußten und wissen nicht, daß das Unbewußte aus der "Projektion des Interesses an Immunität für ein Leben auf das Unendliche entstanden ist". Mit dem Konzept des Unbewußten (ein Grenzbegriff zwischen Biologie und Metaphysik) des frühen 19. Jahrhunderts wird, so Sloterdijk, Immunität erst denkbar. Nachdem die "pantheistischen Übertreibungen" des "romantischen Heilgedankens" vorüber waren, blieb das Immun-Motiv ohne "theologische Verbrämungen" zurück. Der Weg war geöffnet zu einer "interpersonalen Immunpraxis", die in der analytischen Situation ein praktikables Format erreichte.

Kritisiert werden neben der Psychoanalyse auch die anderen Humanwissenschaften. Die von Sloterdijk postulierte Wissenschaft von den Menschen, in der unter anderen Theologie, Vergleichende Literaturwissenschaft und Kulturanthropologie wiedervereinigt sind, muß eine Wissenschaft von den "selbstdichtenden Lebensformen" sein.

In ihrer Bedeutung und in ihren Risiken für die Entwicklung von Wissenschaften und Gesellschaften reflektiert Sloterdijk eingehend die Globalisierung. An einer Vielzahl von Beispielen zeigt er mit selbstbewußtem Überlegenheitsanspruch, daß alle bisherigen Bemerkungen und Ansichten über sie unter "Kurzsichtigkeit" leiden. Denn die Globalisierung beginnt in kulturhistorischer Perspektive bereits bei den Griechen, die das Weltganze durch die Kugelgestalt repräsentiert sahen. Wenn heute der "Globus" ins Spiel gebracht wird, muß bedacht werden, daß unser Verständnis dazu vom Modell des Erdglobus vorgeprägt ist. Daß diese semantische Einengung ein junges Phänomen ist, geht aus dem Umstand hervor, daß den Globen der bergende Rand, das "sphärische Außengewölbe" fehlt. In der Neuzeit ist die nur noch aus Oberfläche bestehende Kugel, auf der niemand mehr heimisch werden kann, weil Geld, Waren und Fiktionen ständig den Besitzer wechseln, lediglich ein Markt, der allen offen steht.

Sloterdijks "Sphären" sind voll von blendenden Formulierungen. Man ist beim Rezensieren versucht, permanent Kostproben stilistischer Brillianz zu zitieren, die in der Paraphrase oder in der Kritik nicht recht sichtbar werden kann. Daß einige kritische Geister vom "unerbittlichen Feuilleton" seinen zuweilen metaphysischen Spekulationen sowie seinem eigentümlichen Produktionsverfahren nur ungern folgen, dürfte dem so fröhlichen wie frechen Wissenschaftler nicht viel bedeuten. Solche Kritik gehört zum "heiteren Bild" des Ganzen, "da man auf gelungenen Festen nicht zuletzt über die mürrischen Gäste lacht, die es mit ihren Weigerungen verderben wollen"! Auch so kann man seine Sphären immunisieren - gegen erkältende Kritik.

Titelbild

Peter Sloterdijk: Sphären I. Blasen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
644 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3518410229

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Titelbild

Peter Sloterdijk: Sphären II. Globen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
1013 Seiten, 32,70 EUR.
ISBN-10: 3518410547

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