Die Legende lebt, die Etiketten kleben

Nachrichten über J. D. Salinger

Von Gerhard KöpfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Köpf

Sobald wieder einmal eine neue Pubertätsgeschichte auf den Büchermarkt geworfen wird, fällt früher oder später der Name Salinger. Aber nicht überall, wo Salinger draufsteht, ist auch Salinger drin: Benjamin Lebert und sein Büchlein Crazy, der Medien jüngster Liebling, sind dafür das beste Beispiel. Aber die Legende lebt, die Etiketten kleben. Salinger mußte sogar schon als Motivation für die Ermordung von John Lennon herhalten. Wer verbirgt sich eigentlich hinter diesem Autor?

Zeitweilig soll er als Jugendlicher in Polen bei einem Metzger Schweine geschlachtet haben, sofern dieser nicht gerade mit seiner Schrotflinte auf Glühbirnen, Spatzen und Angestellte schoß. Geboren aber wurde der Sohn eines jüdischen Käsehändlers und einer irischen Katholikin am ersten Tag des Jahres 1919 in New York. Die große Liebe seines Lebens hieß Oona O'Neill. Die Tochter des berühmten Dramatikers Eugene O'Neill, eine heiß begehrte Schönheit, war noch keine siebzehn. Der um fast vierzig Jahre ältere Charles Chaplin hat sie ihm ausgespannt. Es heißt, der darob zutiefst gekränkte Jerome D. Salinger habe während des Krieges für den amerikanischen Geheimdienst gearbeitet, und kein Geringerer als Hemingway habe sein schriftstellerisches Talent zuerst erkannt. Ein Nervenzusammenbruch und die psychiatrische Betreuung in einem Nürnberger Krankenhaus sollen es erst so richtig freigesetzt haben. Immerhin heiratete der Patient dann seine französische Ärztin.

Im Alter von zweiundzwanzig Jahren veröffentlichte er bereits Kurzgeschichten im Esquire. Er schrieb nur einen einzigen Roman, doch das genügte, um ihn weltberühmt zu machen. Heute beträgt die Weltauflage geschätzte fünfundzwanzig Millionen Exemplare. Als "The Catcher in the Rye" 1951 erschien, machte sich sein Autor klammheimlich aus dem Staub, verließ New York und zog sich in ein Nest namens Cornish in den Hügeln von New Hampshire zurück, um in der Idylle Neuenglands angeblich in einem blauen Overall zwölf Stunden am Tag zu schreiben, eigenes Quellwasser zu trinken, vegetarisch zu leben, allerlei obskure Dinge zu treiben und vom "nächsten Zug in die Antarktis" zu träumen. Seither umkreisen Voyeure, Fans und literarische Paparazzi den zwei Meter hohen Zaun des Anwesens, um wenigstens ein Fetzchen ihrer Ikone zu erhaschen, die doch nichts anderes sein will als "absolut niemand" und sich jedweder Form von Vivisektion verweigert, weil sie nicht vogelfrei sein will.

Salinger ist scheu wie die Garbo. Warum kann solche totale Verweigerung nicht einfach respektiert werden? Woher diese voyeuristische Lust? Ist Salinger vor den Kritikern geflohen, die nicht besonders freundlich mit ihm umgesprungen sind? Oder waren es die lieben Kollegen wie Norman Mailer, John Updike, George Steiner oder Joan Didion, die ihm mit ihren bösartigen Bemerkungen so zusetzten, daß er sich zurückzog?

In Deutschland wurde Salinger sofort beliebt. Lag das an der keuschen Übersetzung von Annemarie und Heinrich Böll, die das "four - letter - word" fuck, das im Original viermal vorkommt, scheu umgeht, oder daran, daß über all den Dialogen dieses Romanes laut Reinhard Baumgart "ein melancholischer Katastrophengeruch" liegt? Vielleicht lebt Salinger aber auch nur deshalb auf der Insel seines einzigartigen Ruhmes, weil er sich auch noch im hohen Alter vor dem Erwachsenwerden fürchtet. Oder hat ihn die Tatsache so tief gekränkt, daß sein Roman immer wieder im Netz der Zensur puritanischer Sittenwächter von Oregon bis Virginia, von Südafrika bis Australien zappelt?

Bereits beim Erscheinen seines Beststellers bestand Salinger auf einer betont schlichten Aufmachung und verweigerte ein Bild auf dem Deckblatt. Verlagen, die sich nicht daran hielten, entzog er sofort die Lizenz. Sogar sein eigenes Konterfei war verboten. Das berühmte Titelbild von "Time" aus dem Jahre 1961 ist nichts anderes als ein Jugendphoto, auf dem das Gesicht künstlich um einige Jahre älter gemacht wurde. Das Original, heute eine Rarität, befindet sich gut gehütet in einer Bibliothek in Wellington, Neuseeland.

Als der englische Lyriker und Biograph Ian Hamilton 1988 mit "In Search of J. D. Salinger" versuchte, eine mit Eitelkeiten und Selbstverliebtheiten gespickte Biographie vorzulegen, erzwang Salinger vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten entscheidende Kürzungen und Schwärzungen dieses Buches, das mehr Klatsch und Tratsch als Aufschlußreiches enthält. Erst die dritte Version durfte veröffentlicht werden. Von den bis dato unveröffentlichten Briefauszügen ist nichts geblieben. Hamilton schont Salinger nicht. Er wirft ihm neurotische Ichbezogenheit und einen "Heiligenkomplex" vor - als ob das bei Schriftstellern so überraschend wäre.

Die Legende will, daß Salinger die eine Hälfte des Jahres in einem buddhistischen Kloster und die andere in der Klapsmühle verbringt. Angeblich schießt er auf jeden, der zu nahe an sein Grundstück kommt. Die einen sagen, er züchte in Island auf dem Hof von Halldor Laxness Ponys, die anderen behaupten, er veröffentliche seine Bücher seit Jahren unter verschiedenen Pseudonymen; Reporter wollen ihn gleichzeitig in New York und Paris gesehen haben. Es gibt mittlerweile Hunderte von Storys über ihn, und keine ist wahr und nichts Genaues weiß man nicht. Fest steht nur, daß über Salinger mehr Geschichten im Umlauf sind, als er selbst je geschrieben hat. Sein Werk ist nicht besonders umfangreich, und doch war er mit "The Catcher in the Rye" "der" Kultautor. Er hat einen besonderen Stil gefunden, neuerdings würde man wohl Sound sagen, mit dem er die Sprache, den Nerv und das Lebensgefühl einer ganzen Ära traf. Der sonst mit Komplimenten ziemlich zurückhaltende William Faulkner nannte es damals immerhin "das beste Werk der gegenwärtigen Schriftstellergeneration".

Heute ist Salinger nicht nur eine Legende, sondern längst ein Mythos, zu dem er selbst nicht wenig beigetragen hat. Nichts, was über ihn erzählt wird, stimmt wirklich, und kein Vergleich mit seinem Werk hält stand, auch wenn er noch so crazy sein mag. Eine Gesellschaft, in der alles und jedes ans medial verfälschte Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird, verzeiht seinen Rückzug nicht. Im Gegenteil: Er stachelt geradezu an und führt zur Treibjagd. Scheues Wild reizt die Jäger, und der Schleier des Schweigens gilt als besonders aufreizend.

Wer heute mehr über Salinger wissen will, der befragt das Internet. Und er wird rasch fündig werden. Der Name füllt Seiten und führt neben nicht enden wollenden Listen von Rat suchenden Dozenten und Studenten mancherlei Kuriosa wie auf wie etwa das "Salinger Live Lighthouse Chat" oder das "Catcher in The Rye Campfire Chat" der "Western Canon University". Es gibt aber auch durchaus hilfreiche und seriöse Unternehmungen wie die Seite "Bananafish" von Stephen Foskett aus Houston, Texas, die für umfassende bibliographische und wissenschaftlich gediegene Informationen sorgt. Freilich ist dies dank Salingers Agentur Harold Ober Ass. nicht ganz unproblematisch, worüber eine Sonderseite namens "Controversy" Auskunft gibt. Foskett mußte sich unter anderem zu einem absoluten Minimum von Zitaten aus Salingers Werk verpflichten. Die Seriosität seiner Aktivitäten läßt sich auch daran ermessen, daß er auf jedwede Schnüffelei in der Privat- und Intimsphäre Salingers ausdrücklich verzichtet. Andere Anstrengungen ähnlicher Art wie etwa "The Holden Server" waren da nicht so pingelig und mußten deshalb dichtmachen. Nur eine kurze Information darüber ist noch abrufbar. Salingers Agentur arbeitet ebenso zuverlässig wie gnadenlos.

Die Auseinandersetzungen mit Salingers Werk und seiner Person aber nehmen kein Ende. Immer wieder erscheinen neue Artikel. Mal beschäftigen sie sich mit des Dichters Rückzug, mal mit seiner rigiden Auffassung des Urheberrechts, dann wieder mit den angeblich in einem begehbaren Tresor gehorteten abgeschlossenen Manuskripten. Jüngsten Angaben von Associated Press (22. 3. 1999) zufolge sollen es mittlerweile fünfzehn Bücher sein. Ein Augenzeuge wiederum bestätigte, er habe den Tresor gesehen: leer. Hat der Autor die Manuskripte anderweitig versteckt, hat er sie vernichtet oder unter Pseudonym bereits publiziert? Wilde Spekulationen darüber sind im Umlauf, die überdies von Meldungen über ein neues Buches zusätzlich aufgeheizt werden. Es soll den Titel "Hapworth 16, 1928" tragen und bei "Orchises Press", einem kleinen Verlag in Alexandria, Va. erscheinen. Unter dem Namen Salinger! Diese Meldung wurde im Januar 1997 von Reuter verbreitet. Das Buch ist bis heute nicht erschienen. Oder doch? Immerhin füllte die gleichnamige Geschichte die gesamte (!) Ausgabe des New Yorker vom 19. Juni 1965. Und erst jüngst am 23. März 1999 kündigte BBC 2 eine Dokumentation mit dem Titel "JD Salinger Doesn't Want To Talk" von Roy Ackerman an, in der es um Schulfreunde, Nachbarn, aber auch um Joyce Maynard gehen soll.

Das ist jene junge Autorin, die in "Tanzstunden (At Home in the World)" ihr "Jahr mit Salinger" erzählt, das nur neun Monate dauerte: eine private Angelegenheit zwischen dem seinerzeit dreiundfünfzigjährigen Schriftsteller und der achtzehnjährigen Journalistin. Eine Liebesgeschichte? Nein, sondern weit mehr eine zur Sexstory aufgemotzte Banalität, die von Joyce Maynard nach fünfundzwanzig Jahren auf die Gasse gezerrt wird. Die entscheidenden "Stellen" waren vor Erscheinen des Buches bereits in "Vanity Fair" nachzulesen. Eine der welterschütternden Neuigkeiten besteht beispielsweise in einer detailgenauen Schilderung des für den Geschlechtsverkehr ungeeigneten Körpers der jungen, an Bulimie leidenden Frau. Am 12. Mai 1999 meldete die "New York Times", vierzehn Briefe Salingers an Joyce Maynard würden bei "Sotheby's" versteigert. In der Presse hieß es, Salinger sei in diesen Briefen "zuerst förmlich, dann liebestrunken und schließlich, am Ende der Beziehung, kaltschnäuzig." Schätzwert der zweifellos höchst privaten Episteln: hundertfünfzigtausend Mark. Begründung der Adressatin: "Ich bringe lieber meine Kinder durchs College, als eine Schachtel voll Salinger - Briefe zu besitzen."

Joyce Maynard ist - ganz im Gegensatz zu Salinger - äußerst auskunftsfreudig. Sie schreibt über ihre Brustimplantate ebenso gerne wie über ihre Plazenta oder über ihre häuslichen Probleme, die sie via Internet verbreitet. "Der Spiegel" meint, es gebe gute Gründe, diese umtriebige Dame, die schon immer ganz groß rauskommen wollte, "niemals ins Haus zu lassen". Ihr jüngstes Buch ist umstritten. Die einen beurteilen es als wichtigtuerische Indiskretion, andere sehen Parallelen zur Affäre Clinton/Lewinsky. Die Wertungen reichen von "schamlos" bis "genial". Die Diskussion hält an, das letzte Wort ist noch lange nicht gesprochen. Über kurz oder lang wird sich Hollywood der Sache annehmen. Quentin Tarantino könnte daraus die Geschichte einer schaurig schönen Obsession stricken. Wie oft rettet der Film einen sauren Stoff!

Längst ist Salinger als Person Gegenstand der Literatur geworden, sei es in Form einer akustischen Holographie wie in dem Hörspiel "Die zwei Körper eines Dichters" von Denis Scheck, sei es in Form einer Sammlung von Briefen. "Letters to J. D. Salinger", herausgegeben von Chris Kubica, einem jungen Autor aus Chicago, sammelt Äußerungen von Schriftstellern wie Paul Auster, Margaret Atwood oder Nicholson Baker, aber auch von Lesern, Kritikern, Wissenschaftlern, Politikern mit Fragen, Kommentaren, Geschichten, Anekdoten. Kubica weiß, daß sein Buch Salinger nicht gefallen wird, aber, so sagt der Herausgeber, es sei ja ohnehin nicht für ihn bestimmt. Einen Verlag hat er noch nicht dafür gefunden. Dafür wirbt er umso fleißiger im Internet.

Eine der liebenswertesten und originellsten Möglichkeiten, den legendenumrankten Schriftsteller doch noch aus seinem Versteck zu holen, hat sich der kanadische Schriftsteller W. P. Kinsella ausgedacht. In seinem Roman "Shoeless Joe", der unter dem Titel "Field of Dreams" auf bezaubernde Weise mit Kevin Costner verfilmt wurde, wird Salinger schlichtweg entführt. "The Rapture of J. D. Salinger" ist das letzte fulminante, nur wenige Seiten umfassende Kapitel eines Romanes, in dem es hauptsächlich um die Frage geht, ob es eine zweite Chance gibt im Leben. Das mag deutsche Leser zunächst verwundern, aber der amerikanische Titel von Salingers Roman um Holden Caulfield ist nichts weiter als ein Verweis auf den Catcher, also den Fänger im Baseball. Die Verfilmung mußte freilich unter anderem auch aus juristischen Gründen vom Roman abweichen. Die Person Salingers wurde durch einen fiktiven schwarzen 68er - Guru ersetzt, den James Earl Jones zärtlich - mürrisch darstellt. Die Entführungsszene gehört zu den Höhepunkten dieses Films. Und wenig später verschwindet diese Figur für immer: diesmal in einem mannshohen Maisfeld irgendwo in Iowa, unsichtbar, der Medienmaschinerie entrückt und dennoch aufbewahrt im kollektiven Gedächtnis seiner Zeit.