Zu dieser Ausgabe

Das Problem von Normalität und Abweichung stellt sich nicht nur im Rahmen unseres Psychoanalyse-Schwerpunktes, sondern auch in der Literatur. Literatur thematisiert grundsätzlich den Ausnahmefall, das Besondere, das "Ereignis", wie Jurij M. Lotman es definierte. "Es brennt!" nicht nur bei den Pariser Surrealisten um André Breton, die mit skandalträchtigen Aktionen und Manifesten den Bürger in seiner Gemütsruhe stören wollten; ganz Europa brannte im Zeitalter des Totalitarismus. Die Rezension zu Alexander Tišmas Roman "Treue und Verrat" (dem Abschlußband seines Romanzyklus über ein mörderisches Jahrhundert) zeigt, daß eine Rückkehr zur Normalität unmöglich gemacht ist. Unmöglich war auch für Thomas Mann die Rückkehr ins besiegte Deutschland. In einer Studie zum Verhältnis der Deutschen zu "ihren" Emigranten wird deutlich, daß es auf beiden Seiten Vorbehalte, wenn nicht gar Ressentiments gab, die eine Re-Integration vieler Intellektueller ins Nachkriegsdeutschland verhindert haben (Jost Hermand / Wigand Lange: "Wollt ihr Thomas Mann wiederhaben?"). Zwei dieser Exilanten, Thomas Mann und Hermann Hesse haben einen Briefwechsel über ihr Leiden an der "Todeskrankheit Deutschland" geführt, der auch diese Frage der unmöglichen Rückkehr thematisiert.

Vom gegenwärtigen, gleichwohl heiklen Umgang mit der deutsch-jüdischen Geschichte erzählt Barbara Honigmanns Roman "Damals, dann und danach". Die ereignisreiche jüngere deutsche Geschichte geht aus dem Briefwechsel der Hamburger Verlegerin Hanna Mittelstädt mit der Marburger Autorin Anna Rheinsberg hervor: Wenn Inge Viett, ehemalige RAF-Terroristin, ihre Autobiographie verlegen läßt, dann ist im kleinen Nautilus Verlag "der Teufel los".

Für den Essayisten Botho Strauß ("Der Aufstand gegen die sekundäre Welt") manifestiert sich das Ereignis, das den Menschen aus dem Alltag herauszureißen vermag, vor allem in der Kunst und in der Religion. Uwe Timms Erzählungen "Nicht morgen, nicht gestern" suchen unter der Oberfläche des Alltäglichen nach dem Anderen, besonders dem Absurden, das nur darauf lauert hervorzubrechen. Peter Härtling entwirft in seinem jüngsten Opus "Große, kleine Schwester" ein Erzählpanorama der Jahrhundertkatastrophen. Selbst die Biographie des widerspruchsvollen Tucholsky, der als Publizist nicht immer vorbildlich agierte, zeugt von den enormen Abgründen und Verwerfungen der Zeitgeschichte.

Anders dagegen Sibylle Mulot in ihrem Roman "Die unschuldigen Jahre": Sie scheint es sich gerade zur Aufgabe gestellt zu haben, den Normalfall zu schildern, den braven Kleinstädter "mit dem erklärten Willen zur Normalität". Aber auch hier ist es ähnlich wie bei Uwe Timm: die Oberfläche ist das Ergebnis einer "eifrig betriebenen Schuldverdrängung".

Melissa Müllers Anne Frank-Biographie zeigt, daß es keine Alternative zur Beschäftigung mit der Schuld gibt. Sie dokumentiert in ihrem Buch den letzten Stand der Forschung und Erforschung dieser bewegenden Autobiographie, die noch heute junge Leser dazu bringt, sich mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Melissa Müller zeigt in ihrem Buch, daß Anne Frank schon sehr früh einen starken Schreibimpuls hatte, daß es nicht erst der Leidensdruck war, der sie zum Schreiben brachte.

Zu der Frage, was autobiographisches Schreiben sei und was nicht, ist in den letzten drei Dezennien eine Fülle von theoretischer Literatur entstanden. Seit den sechziger Jahren schien es in der deutschen Gegenwartsliteratur normal zu sein, daß Autoren über ihre Biographie schreiben, daß sie - zumindest partiell - Daten ihrer eigenen biographischen Realität verwenden, wie Christa Wolf in ihrem Roman "Kindheitsmuster" oder Maxine Hong Kingston in ihrem Buch "The Women Warrier". Aus der Theorie der Autobiographie sind fiktionale Texte wie diese weitgehend herausgefallen. Nun versucht Almut Fincks Konstanzer Dissertation, dem "Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie" auf die Spur zu kommen.

Die Juli-Ausgabe von literaturkritik.de bietet 19 Texte zum Psychoanalyse-Schwerpunkt, drei Texte zu Goethe, mehr als 35 Rezensionen aus den Bereichen Belletristik und Sachbuch sowie Kurzanzeigen in den Rubriken "Hörspiel", "Zeitschriften" und "Von Mitarbeitern". Eine Debatte fehlt in dieser Ausgabe, was im Zweifelsfall am Sommerloch liegen dürfte. Wir werden aber weiterhin Debatten, die sich aufzugreifen lohnen, aufgreifen. Mit dieser Ausgabe wünschen wir allen unseren Lesern und Leserinnen einen guten Start in die heiße Jahreszeit.

Lutz Hagestedt