Thomas Mann auf zweihundert Seiten

Zu Edo Reents Kurzbiographie im Claassen Verlag

Von Julia SchöllRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Schöll

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem Hermann Kurzke 1999 mit "Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk" die Biographie Thomas Manns vorgelegt hatte, glaubte man, nun sei erst einmal Ruhe eingekehrt auf diesem Gebiet. Was damals nur Eingeweihten bekannt sein konnte, war, dass sich das Phänomen Thomas Mann spätestens 2001 zum hocherfolgreichen Marktsegment mausern würde. Um das zu prognostizieren, musste man wissen, dass Heinrich Breloer und Horst Königstein emsig daran arbeiteten, Thomas Mann per Spiel- und Dokumentarfilmen zur Medienlegende zu erheben ( eine geistig-literarische war er schon vorher, so darf man annehmen. Pünktlich zum großen TV-Ereignis im Dezember, der mehrfachen Ausstrahlung der drei Spiel- und drei Dokumentarfilme von Königstein und Breloer, erschien in der neuen Reihe "Biographische Passionen" im Claassen Verlag ein Band zu Thomas Mann. "Kurz, kompakt und voller Leidenschaft erzählt", so lautet der Werbeslogan für die Reihe, in der zuvor schon Kurzbiographien zu Mozart, Nietzsche und Proust erschienen waren. Als Autoren hat man sich namhafte Wissenschaftler, Journalisten und Schriftsteller engagiert, in den drei genannten Fällen Peter Gay (zu Mozart), Joachim Köhler (zu Nietzsche) und Edmund White (zu Proust). Für den Band über Thomas Mann wurde mit Edo Reents ein Autor verpflichtet, der nicht nur für seine journalistische Tätigkeit im Feuilleton der SZ und der FAZ bekannt ist, sondern auch wissenschaftlich zu Thomas Mann gearbeitet hat, unter anderem in seiner Doktorarbeit aus dem Jahr 1995 zu Thomas Manns Schopenhauer-Rezeption (erschienen 1998). Doch seine ganze Könner- und Kennerschaft darf Reents hier leider nicht ausspielen.

Zweihundert Seiten scheint als quantitative Obergrenze für die Reihe vorgegeben zu sein, so der Eindruck, und nur Gays Mozartbiographie überschreitet sie um wenige Seiten. Ob der deutsche Bildungsbürger vor größerem Umfang tatsächlich zurückschreckt, bleibt fraglich. Der erstaunliche Erfolg der mehr als 600 Seiten, die die bereits erwähnte Thomas Mann-Biographie von Hermann Kurzke im C. H. Beck Verlag umfasst, scheint dem zu widersprechen, zumal diese Biographie nicht nur ein philologisches, sondern zudem ein literarisches Kunststück ist und auch Literaturinteressierten ohne germanistischen Doktortitel ein Lesevergnügen bietet.

Reents begründet sein Unternehmen noch einer Thomas Mann-Biographie damit, dass den bisher erschienenen der "einführende Charakter" fehle. Er, so Reents im Vorwort, wende sich im Gegensatz zu seinen Vorgängern an eine "nach Möglichkeit breite Leserschaft". "Schlaglichter" wolle er setzen, und er räumt ein, dass etwas grundlegend Neues über diesen Autor zu sagen "kaum" mehr möglich sei. Aus seiner Sicht auf Thomas Mann macht Reents von Anfang an keinen Hehl: Er sieht in ihm den "ambivalenten, haltlosen Schriftsteller", den einsamen Außenseiter. Thomas Mann als Steppenwolf? Nachdem Breloer und Königstein in ihren Fernsehfilmen gerade auch den Familien- und Gesellschaftsmenschen Thomas Mann vorgeführt haben, mag dies zumindest ein legitimes Kontrastprogramm sein.

An seine Sicht der Person Thomas Manns knüpft Reents schon im Vorwort eine politische Bewertung. Reents stellt fest, Thomas Mann habe sich vom öffentlichen ( er meint wohl vor allem das politische öffentliche Leben ( ferngehalten, solange es möglich war, und habe sich erst im Ernstfall, während der beiden Weltkriege, die er erlebte, zu Wort gemeldet. Dann, so Reents, habe er sich zwar geäußert, "aber immer unter dem Vorbehalt [...], dass er oft genauso gut das Gegenteil hätte sagen können." Wie darf man das verstehen? Dass Thomas Mann während des Ersten Weltkriegs eine andere Position bezog als während Hitlers Diktatur, ist bekannt; auch, dass dazwischen eine Entwicklung in Manns politischem Denken liegt. Will Reents hier andeuten, dass die entschieden antifaschistische Position Manns während des Exils eine beliebige war? Auch anders hätte ausfallen können?

Reents Kollege Martin Meyer von der NZZ hat vor kurzem in seinem Buch über Thomas Manns Tagebücher die Behauptung aufgestellt (aber nicht belegt), Thomas Mann hätte leicht ein Mitspieler im faschistischen System werden können, wenn die Nazis ihn nur ausreichend hofiert hätten ("Tagebuch und spätes Leid", München 1999). So weit würde Reents wohl nicht gehen, doch er entschlüsselt seine Andeutung im weiteren Text nicht explizit. Als Hinweis könnte immerhin seine These dienen, Thomas Manns umfangreiches antifaschistisches Engagement im Exil sei "nicht mit allerletzter Überzeugung", sondern vielmehr "ironisch" erfolgt. Als Beleg dient ihm ein Tagebuch-Eintrag vom 27.11.1937, in dem Thomas Mann sich fragt, ob er an den "demokratischen Idealismus", den er vertritt, tatsächlich glaube, oder ob er ihn nicht vielmehr wie eine Rolle spiele. Doch mit Ironie hat dieser Tagebucheintrag nichts zu tun. Er deutet vielmehr an, dass sich Thomas Mann nicht sicher war, ob der demokratische Optimismus, den er verbreitete, tatsächlich angemessen und ob sein humanistischer Idealismus von der Weltlage nicht längst überholt war. Denn er fügt hinzu: "Es ist jedenfalls gut, diese Welt zu erinnern" ( selbst wenn die europäischen Diktaturen sie bereits überrollt haben sollten. Daraus spricht ein politischer Pessimismus, der Thomas Mann trotz allem Aktionismus im Exil immer wieder befällt. Das mag tragisch sein, ironisch ist es nicht.

Reents schreibt stilsicher und lesbar, doch verführt ihn seine rhetorische Gewandtheit gelegentlich zur Ungenauigkeit: Als große Gegenfigur zu Hitler sei Thomas Mann im Exil betrachtet worden, so Reents. Er selbst habe sich jedoch eher als "Bruder des Reichskanzlers und Führers" gefühlt. Das ist natürlich eine schöne Überleitung zum Essay "Bruder Hitler", der im Anschluss behandelt wird. Doch die Aussage ist ungenau, ist doch der berühmte und von Reents zu Recht als gewagt charakterisierte Aufsatz Thomas Manns eine Auseinandersetzung mit einem "Bruder", der gerade das Gegenteil der eigenen Person darstellt. Und der Aufsatz ändert nichts daran ( oder macht gerade das deutlich (, dass sich Thomas Mann im Exil als das entscheidende Gegengewicht zu Hitler fühlt und sich selbst immer wieder zum großen Gegenspieler stilisiert.

Vielleicht ist solche Detailkritik unangebracht angesichts des von Reents selbst proklamierten Überblickscharakters des Buches. Sicher hätte Reents in anderem Rahmen ausführlicher argumentieren und belegen können, so aber bleibt viel Angedeutetes offen. Was ihm in der Kürze jedoch gelingt, ist, die wichtigsten Themen dieses Dichterlebens anzusprechen: die unterdrückte Sexualität, den "Buddenbrooks"-Skandal, den Brüderstreit, das Leben voll repräsentativer und familiärer Pflichten, die dem Künstler zur Last werden, die Auseinandersetzung mit Deutschland bis zum Finale im "Doktor Faustus". Wie Kurzke strukturiert Reents seine Darstellung eher thematisch denn streng chronologisch. Die Analyse des Werkes fällt vergleichsweise kurz aus ( auch das wohl ein Tribut an den schmalen Umfang. Und dennoch: Vielleicht hätte manch interessierter Thomas-Mann-Leser doch auf das eine oder andere biographische Detail verzichtet zugunsten tieferer Einblicke in das Werk ( zumal es gerade das ist, was die Filme von Breloer und Königstein nicht leisten.

Vieles, der "Joseph" etwa, fällt auf diese Weise fast völlig unter den Tisch. Einige Stellen erwecken den Eindruck, es sei im Nachhinein noch einmal gekürzt worden. Man mag Reents nicht ganz glauben, dass sich für ihn die Erzählung "Der kleine Herr Friedemann" tatsächlich auf folgende Zusammenfassung reduziert: "Es ist die Geschichte eines verkrüppelten Junggesellen, der sich mit Sublimierung über Wasser hält. Eines Tages verliebt er sich in eine Frau, die ihn so lächerlich macht, dass er sich in einer Pfütze ertränkt." Ein nettes Wortspiel, doch es drängt sich die Frage auf, ob damit irgendetwas erklärt ist ( zumal solche Inhaltsangaben die vom Verlag versprochene "Leidenschaft" schmerzlich vermissen lassen. Auch die Ergänzung: "Viel Schopenhauer und Nietzsche steckt in dieser Novelle", wird dem interessierten Laien, für den diese Biographie gedacht ist, in dieser Kürze wohl nicht weiterhelfen. So bleibt der Eindruck, dass hier ein Autor mehr zu sagen gehabt hätte, als ihm gestattet war. Vielleicht hat Reents für diese Form das Mögliche getan. Schade ist es dennoch.

Titelbild

Edo Reents: Thomas Mann.
Claassen Verlag, München 2001.
184 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3546002911

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