Episches Theater und asiatisches Spiel

Sabine Kebirs Helene Weigel-Biographie

Von Gerhard MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Da es von Helene Weigel außer Briefen kaum schriftliche Dokumente gibt, hat sich Sabine Kebir auf die zahlreichen Interviews der Weigel und auf "Hunderte [...] von Zeugnissen anderer" gestützt - Theaterkritiken, literarische Zeugnisse, Artikel, Briefe an sie, Gespräche über sie und nicht zuletzt die Rollen, Theater-Texte und Gedichte Bertolt Brechts, die er an sie schrieb. Die letzten Worten erhellen schon, wie sehr das Leben und Werk Helene Weigels mit dem Leben und Werk Brechts verbunden sind, und es ergibt sich "die Geschichte einer künstlerisch-intellektuellen Symbiose, wie sie im 20. Jahrhundert wohl nur noch zwischen Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre bestand".

Der Stoff ist auf sechs lebensgeschichtlich-chronologisch gegliederte Kapitel verteilt. Das erste beschreibt die Kindheit in Wien, zeigt das früh aufbrechende dramatische Genie, und es enthält schon die These, die das gesamte Buch durchzieht und auf die Kebir immer wieder zurückkommt: "Asiatische Körpersprache war das Besondere, was sie auf die europäische Bühne gebracht hatte." Bereits an dieser Stelle konkretisiert die Verfasserin: "Dieser Eindruck entstand nicht nur durch ihre zierliche Gestalt und die ovale Kopfform. Hinzu kam eine bestimmte Haltung beim Stehen. [...] Sie arbeitete mit allerkleinsten, aber um so genaueren Bewegungen im Gesicht, konnte aber auch scheinbar mühelos mit Maske spielen." Kebir legt Zug und Zug die Kongruenz dieses Vermögens mit Brechts epischem Theater dar.

Weigels Theaterkarriere begann 1919 in Frankfurt am Main; so richtig setzte sie aber erst danach in Berlin ein, wo sie 1925 den künstlerischen Durchbruch am Renaissancetheater erlebte - mit Pirandellos "Das Leben, das ich dir gab". Kritiker hoben ihre gestische Kraft hervor. Im dritten Jahr ihrer Beziehung zu Brecht "wurde der Grundstein zur künstlerischen Zusammenarbeit gelegt, aus der sich nicht nur sofort eine neue Stufe des Erfolgs für die Weigel ergab, sondern auch wichtige [...] Orientierungen für ihr späteres Profil. [...] Der Umschwung war allerdings keineswegs radikal, denn bis Ende der zwanziger Jahre legte es die Weigel durchaus weiterhin darauf an, als ,lärmendste Schauspielerin Berlins' zu gelten." Ein neuer Abschnitt ihrer Karriere vollzog sich mit der Adaptation der epischen Spielweise 1929 bei "König Ödipus" von Sophokles/Hofmannsthal. Die Verbindung zu Brecht, mit dem sie im April 1929 die Ehe einging, war offensichtlich.

Das zweite Kapitel geht zunächst auf Persönliches ein (1923 Kennenlernen Brechts, die Liebesbeziehung in Kenntnis seiner Polygamie, die Geburt der gemeinsamen Kinder Stefan und Barbara u. a.). Wichtige Namen sind Eugenie Schwarzwald (die frühere Erzieherin der Weigel) und Karin Michaelis (die dänische Schriftstellerin, die später so viel für Emigranten aus Deutschland, auch für die Brechts, tun wird). Auf Voyeurismus und Pikanterien verzichtet Kebir, arbeitet einem solchen modischen Verlangen geradezu entgegen. Aber sie hält, so scheint es, mit nichts hinterm Berg und kommt zu dem Schluss, was die "Grundkonstellation" von Weigels gesamtem späteren Leben bleiben wird: Sie "konnte ihn [Brecht] nur an sich binden, wenn sie seine anderen Bindungen respektierte. Mehr: wenn sie sich in gewisser Weise auch für ihn engagierte. [...] Also keine herkömmliche Liebesbeziehung [...], sondern Aktivität."

Es folgt die Skizzierung von Brechts politischer und künstlerisch-dramatischer Entwicklung, die Phase der Lehrstücke, dann die "Mutter", ein Höhepunkt ihrer beider Kunst (sehen wir von der "Dreigroschenoper" ab), und für die Weigel ein neuer Umschwung: Das "leise Spiel" tritt in den Vordergrund.

Das dritte Kapitel schildert "Flucht und Exil in Dänemark". Für Helene Weigel begann eine schwierige Phase, nicht nur wegen der für Exilanten harten Lebensumstände. Traten in Brechts Leben zwei Frauen, Margarete Steffin und Ruth Berlau, so hatte sie darüber hinaus damit zu kämpfen, dass sie keine Engagements bekam (mit dem Misserfolg in Zürich begann es). Positiv und produktiv war Weigels Besuch in Moskau, wo sie den chinesischen Schauspieler Mei Lang-Fang kennenlernte, der ihr asiatisches Spiel und die Stilisierung auf eine neue Stufe hob. "Chineserin" wurde sie später von Therese Giehse genannt.

Nicht übergangen werden darf, dass die künstlerischen und politischen Erfahrungen in der Sowjetunion insgesamt sehr negativ waren, als Exil kam das Land nicht in Frage: "Nur durch den Glücksumstand, daß sie das Exil in der Sowjetunion vermeiden konnte, haben Brecht und Weigel überlebt." Kebir geht hier weiter als viele andere, etwa Werner Hecht, und formuliert zu Recht scharf. Schon lange weiß man genau, wie viele deutsche Emigraten in der Sowjetunion verhaftet und umgebracht worden waren, aus dem Umkreis Brechts namentlich Carola Neher, Ernst Ottwalt, Wsewolod Meyerhold und Sergej Tretjakow.

Ein wichtiger Auftritt der Weigel glückte im Exil doch: "Die Gewehre der Frau Carrar". Mit dieser ersten von Brecht für seine Frau geschriebenen großen Mutterrolle knüpfte es an die "Mutter" an und präludiert der "Mutter Courage". Erstaufgeführt wurde das Stück aus dem spanischen Bürgerkrieg 1937 in Paris; Inszenierungen in anderen Ländern folgten. Viel wäre hier über das neue realistische und genaue Spiel der Weigel zu referieren, auch zur Darstellung der "jüdischen Frau" in Brechts Szenen "Furcht und Elend des Dritten Reiches".

Nach dem Münchner Abkommen zeichnete sich der Zweite Weltkrieg ab. Eine neue Flucht war vorzubereiten. Am 23. April 1939 fuhren Brechts nach Schweden.

Das vierte Kapitel geht den Exilstationen in Schweden, Finnland und den USA nach; der Titel "Schrubbern muß sie können" ist programmatisch. Helene Weigels Existenz wird noch weiter herabgedrückt, vor allem in Finnland. Sie ist Hausfrau, sorgt für Brechts Artbeitsbedingungen (zwei seiner großen Stücke entstehen in dieser Zeit) und die Familie. Es fällt, bezogen auf die Jahre in Amerika, der Ausdruck "Schattenexistenz". Lebendig ist die Darstellung des Transits durch die Sowjetunion, bewegend die Seiten über das Sterben Margarete Steffins. Erst 1944 hatte die Weigel eine Chance in Hollywood: eine kleine Szene im Film über Anna Seghers' Roman "Das siebte Kreuz"; sonst konnte sie nur ein wenig Schauspielunterricht erteilen.

Das fünfte Kapitel zeigt die Brechts wieder in Europa: Ende 1947 in der Schweiz. "Helli jetzt herrlich, von großer Kühnheit" - der Ausspruch Brechts gilt Weigels Spiel in seiner "Antigone"-Bearbeitung. In der Schweiz sollte vor allem erprobt werden, ob die Weigel noch spielen könne. Die nächsten Abschnitte behandeln die Phase in Ost-Berlin bis zu Brechts Tod. Zentral die Erarbeitung der "Mutter Courage", die Gründung des Berliner Ensembles, Weigels Intendantenrolle, die Auseinandersetzungen mit der Kulturbürokratie, die frühen Jahre der DDR, der verordnete Sozialismus, der 17. Juni, Erpenbeck und Stanislawski, Brecht und die Frauen, der Stalinpreis ... Eindrucksvolle, glänzend geschriebene Seiten.

Das sechste und letzte Kapitel gilt der Weigel allein. Nach Brechts Tod setzte sie all ihre Kraft daran, sein Erbe zu wahren: das Theater, sein Werk. Bemühungen um den Nachlass und die Ausgabe seiner Schriften; wieder sehr präzise und informative Passagen. Auch ihre Art, das Theater zu leiten, und besonders ihr soziales Engagement bei der Produktion von Babynahrung und Kinderschuhen werden geschildert, und dies ist für Kebir kein Nebenbei, sondern erweist Weigels persönliche Humanität. Ihre Raffinesse beim Durchsetzen auch politisch-künstlerischer Vorhaben kommt zur Sprache: Die "Genossin" Helene Weigel ging auch Kompromisse ein, verteidigte aber immer, so die Verfasserin, die Interessen ihres Theaters und seiner Beschäftigten. Mittlerweile sind Stasi-Dokumente einzusehen. Sie war die "Mutter" des Berliner Ensembles, viele Jahre hielt sie ihre Rolle durch. Doch seit den späten sechziger Jahren konnte sie Erstarrung und Ritual nicht vermeiden. Der Rezensent erinnert sich an eine O'Caesey-Aufführung im Jahr 1967, die sich zwar durch Brillanz, aber auch durch eminent "kulinarischen" Stil hervortat. Kebir, dies scheint mir plausibel, verweist als Ursache auf den "mißlichen Weg, der ihrer Gesellschaft aufgezwungen war, daß sie am Ende ihres Lebens einer fast nur noch traditionsverpflichteten Truppe vorstand" und ihr "Theater der radikalen Demokratisierung" nicht auf der früheren Höhe halten konnte.

Das lesenswerte Buch schließt mit reichhaltigen Anmerkungen, "Lebensdaten und Rollen Helene Weigels" und einem Personenregister. Kleine Fehler stören nicht, auch nicht eine gelegentliche Sprunghaftigkeit der Darstellung.

Titelbild

Sabine Kebir: Abstieg in den Ruhm. Helene Weigel. Eine Biographie.
Aufbau Verlag, Berlin 2000.
426 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3351025017

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